Florian Breitmeier: „… wie hältst Du’s mit der Religion?“

Florian Breitmeier*:
„… wie hältst Du’s mit der Religion?“
Warum die Bibel nicht nur in die Kirche gehört

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Die ersten Erfahrungen prägen alle Folgenden nachhaltig – in der Liebe, im Beruf, auch in der Religion:

Es muss in der dritten Klasse gewesen sein. Ich sehe noch heute die Zeichnung in dem schlecht gedruckten Religionsbuch mit dem blassblauen Pappeinband vor mir: der alte Mann mit dem langen Bart hat seinen Dolch erhoben, vor ihm, auf einem Felsen, kniet der Junge, die Hände auf den Rücken gebunden.

Ich weiß nicht mehr, was genau uns der Lehrer dazu erzählt hat, aber bis heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, packt mich noch jedes Mal der Schrecken, wenn ich eine Darstellung der Szene von Isaak und Abraham sehe – ob nun in Urlaubskirchen oder von Caravaggio gemalt in den Uffizien. Ich weiß nicht mehr, welche Kinderangst sich an dieses Bild geheftet hat.

Biblische Geschichten waren zum Fürchten. Sie gaben einer diffusen Kinderangst Gestalt, auch deshalb, weil die Lehrer und die Pfarrer über Gott und Christus, über Noah und Salomon, über Jesaja und David wie über wirkliche, historische Menschen redeten. So als hätte es die historische Bibelkritik nie gegeben, so als lebten wir nicht in einem Jahrhundert, in dem die Spanne der christlichen Religiosität vom massiven Fürwahrhalten der Schöpfungslegende bis zu Dietrich Bonhoeffers Satz „einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“ reicht. Eine solche Glaubenslehre aber, die intellektuell unterfordert, führt irgendwann zum Abbruch der spirituellen Beziehungen.

Ich musste an mein Erlebnis mit Abraham – Gott sei Dank gab es später im Leben dann doch noch erfreulichere Begegnungen mit der Bibel – ich musste also an Abraham denken, als ich kürzlich die Bilder des aufblasbaren lila „Reli-Domes“ sah, mit dem die Evangelische Nordkirche durch die Städte Mecklenburgs tourte, um mit Gesprächen, Musik und coolen Slogans für den Religionsunterricht zu werben. Offenbar kränkelt die Nachfrage.

An den Regelschulen liegt der Religionsunterricht in den Händen der Kirchen. Sie bestimmen, wer in der Schule Reli unterrichten darf. Diese deutsche Besonderheit führt seit Jahrzehnten immer wieder zu grundsätzlichen Diskussionen über die Gestaltung von „Reli“ in der Schule. Zum Beispiel über den „Religionsunterricht für alle“, der in Hamburg und Bremen die Regel ist.

So argumentiert der emeritierte Professor Wilfried Härle in einem Gutachten für die Nordkirche gegen einen gemeinsamen Unterricht von Protestanten, Katholiken, Juden und Muslimen. Denn das Grundgesetz garantiere, dass „die jeweiligen Grundsätze der Religionsgemeinschafen durch die Lehrkräfte als gültige Wahrheiten zu vermitteln sind“.

Andere Rechtsgutachten kommen zu dem Ergebnis, das „multireligiöser Unterricht“ vom Grundgesetzartikel 7 gedeckt sei.

Und dann gibt es natürlich die Stimmen, die für einen religionsfreien Ethik-Unterricht plädieren; oder für einen islamischen Schulunterricht in staatlicher Verantwortung, um dem Islamismus zu begegnen; nicht zu vergessen die Plädoyers atheistischer Bildungsbürger für die Bibellektüre in der Schule, weil man doch ohne sie die europäische Geschichte, Kunst und Literatur nicht verstehen könne.

Derartige Debatten sind chronisch, wo immer an staatlichen Schulen Glauben unterrichtet wird. Aber nehmen wir mal versuchsweise an, die Unterweisung in
Glaubenssysteme würde, wie in anderen europäischen Ländern, von den Religions-gemeinschaften in Eigen-Regie betrieben: dann gehörte, so meine ich, auch in eine solchermaßen säkularisierte Schule die Lektüre der Bibel, wenn auch sicher nicht so, wie man mir vor vielen Jahren das Sohnesopfer des Abraham nahebringen wollte.

Denn in der Bibel steckt mehr historische Wirklichkeit, als bestimmte Hau-drauf-Atheisten glauben, und vielleicht ist sie sogar eine plausiblere Schullektüre als etwa der „Faust“, denn Noah und Abraham, Moses, Jesus und viele andere spielen im Koran wie in den Bibeln der Juden und Christen zentrale, wenn auch anders gewichtete Rollen. Aber Glaubensbekenntnisse gehören in die Kirche, die Moschee, das Elternhaus; in der Schule sollte die Bibel nicht als ein Buch gelesen werden, das gleichsam vom Himmel fiel. Sondern, so schlagen es der Anthropologe und Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Schriftsteller Kai Michel vor, als ein „Tagebuch der Menschheit“.

Sie verstehen und lesen die Bibel als ein Buch, das Zeugnis von der „größten Verhaltensänderung“ ablegt, „die je eine Tierart auf diesem Planeten vollzogen hat“: der Neolithischen Revolution, dem Übergang von einer nomadischen zur sesshaften Lebensweise, vom Jagen und Sammeln zu Ackerbau und Viehzucht.
Der Grund dafür war Klimawandel: die Erderwärmung, die etwa vor 12 000 Jahren einsetzte und in deren Folge in mehreren fruchtbaren Zonen der Welt der Ackerbau begann. Dadurch wurde das Leben sicherer, aber auch anstrengender. Landwirtschaft erfordert regelmäßige, systematische Bearbeitung der Natur, Kalendersysteme, Bewässerungssysteme – dadurch wuchs das Menschheitswissen. Aber der Fortschritt hatte auch seine schwarzen Seiten: mit der Sesshaftigkeit wandelten sich die Besitzformen und das soziale Gefüge.

Mit der neuen Eigentumsordnung schwand die selbstverständliche Solidarität, die in nomadischen Clans das Überleben sicherte. Auch die Geisterwelt veränderte sich. Zu den Naturgöttern gesellten sich in den patriarchalen Familienverbänden nun die Ahnen. Die wurden verehrt, weil sie – im wörtlichen Sinne – den Boden für die Gegenwärtigen bereiten, die ihrerseits Setzlinge für ihre Nachkommen pflanzen müssen.

Über zehntausend Jahre lang wuchsen in Nordafrika im Nahen Osten die Großreiche der Assyrer und Ägypter, deren Herrscher sich zu Götterkönigen aufwarfen, die kleinere Stämme eroberten, unterwarfen, versklavten. Einer dieser Stämme war das Volk der Israeliten. Sein Ursprungsmythos ist der Exodus, und die Geschichte von Moses ist die Geburtsurkunde des Monotheismus.

Der Auszug eines Volkes aus Ägypten, seine Jahrzehnte währende Wanderung durch die Wüste, bis es im gelobten Land sesshaft wird – das ist, und Hollywood hat es uns mehrfach gezeigt – eine großartige Geschichte. Aber es gibt kein Zeugnis dafür, dass es Moses je gegeben hat.

Das welthistorisch Bedeutsame an der Moses-Erzählung sind nicht einmal die zehn Gebote, sondern die 365 Verbote und 248 Gebote, die ihnen folgen. Gesetze, die viele der Folgeprobleme des Sesshaftwerdens regeln. Die minutiösen Essensregeln und das Verbot der Sodomie, etwa, die nötig wurden, weil durch die Domestizierung von Tieren unbekannte Krankheitserreger auf die Menschen übersprangen. Das Eigentum an Grund und Boden machte Regeln über Grenzstreitigkeiten nötig, ebenso wie Strafkataloge gegen Diebstahl, Wucher, nachbarliche Gewalt. Neue religiöse Rituale sollten den sozialen Zusammenhalt herstellen.

Zentral schließlich, und von den Propheten immer wieder eingeklagt, sind die Regeln gegen das Anwachsen der Ungleichheit: Die Almosenpflicht, das Zins- und Wucherverbot, das Jubeljahr, in dem alle Schulden erlassen werden. Sichergestellt werden sollte die Einhaltung dieser Gesetze durch einen strafenden Gott: Jahwe. Ursprünglich ein Wetter- und Kriegsgott, stieg dieser nun zu einer Art Superzeus auf, ein zorniger Gott, der so stark mit seinem Volk verbunden war, dass er nicht davor zurückschreckte, Israel für Gesetzesbruch durch die fremden Heere züchtigen zu lassen. Nun waren es nicht mehr die anderen, die stärker waren, es war der eigene Gott, und dessen Reich war nicht nur die jüdische Gemeinschaft, sondern der lenkte die Geschicke der Welt.

Vor allem aber – und deshalb ist der Monotheismus ein großer Sprung nach vorn auf den Wegen der Aufklärung – war dieser Gott, anders als die sich selbst vergottenden Herrscher der Assyrer, der Perser, der Babylonier nicht von dieser Welt. Und das hieß, seinen Gesetzen waren auch die Herrscher und die Reichen unterworfen. Ein Gott – ein unsichtbarer, gestaltloser dazu, wurde zum Garanten der sozialen Ordnung, und damit begann, nun, nicht die Demokratie, wohl aber eine Milderung der Gewalt durch Gesetze.

Wenn Mächtige nun die Gesetze brachen, mussten sie mit Propheten rechnen, die sie daran erinnerten – charismatische Gestalten, kundig in der Über-lieferung und mächtig in ihren Stimmen, gelegentlich auch sehr merkwürdige ekstatische Außenseiter der Gesellschaft. So wird von Jesaja überliefert, dass er drei Jahre lang nackt durch Jerusalem rannte und predigte; und Hesekiel lag drei Jahre lang auf seiner linken Seite und hatte die Sprache verloren.

Katastrophen sind die Treiber der kulturellen Evolution – das gilt auch für die Entstehung des Neuen Testaments. Nach den Assyrern, Ägyptern und Persern waren es nun die Römer, die das Land unterwarfen. Die priesterliche Oberschicht kooperierte mit der Besatzungsmacht, in einer zunehmend auch städtischen Welt lockerten sich die Familienbande, die überkommene Moral erodierte, von innen bedrohte Depression die Gesellschaft. Da trat ein Heiler und Lebenslehrer auf und gewann Anhänger.

Jesus predigte nicht unbedingt eine Verschärfung, wohl aber eine weitere Stufe der Verinnerlichung der Gesetze, eine Gewissensreligion: „Zu den Alten ist gesagt, Du sollst nicht töten…Ich aber sage…wer auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein…“

Die Bergpredigt gab dem einzelnen Menschen seine Würde – und bürdete ihm damit zugleich die Verantwortung für seine Lebensführung auf. Aber Jesus war nicht nur Prediger einer radikalen Moral der Gleichheit, der Liebe, der Gemeinschaft zwischen Vereinzelten, Fremden und Ungleichen; seine Lehre war auch aufrührerisch. Wenn er das Ende der Geschichte ausrief, die finale Katastrophe, und die große Abrechnung, nach der das Große nicht groß und das Kleine nicht klein bleiben wird – dann stellte er sich, dann stellten seine Anhänger ihn in die messianische Tradition der Befreiung von Unterdrückung und Not.

Über die Reden des historischen Jesus können wir nur Vermutungen anstellen. Die Geschichte des Christos, des Messias, des Erlösers, wurde ein halbes Jahrhundert nach dessen Tod, vor allem aber: nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer im Jahre 70 aufgezeichnet.

Und wenn nun Religion auch die Funktion hat, Menschen zu ermöglichen, „in Situationen tatsächlicher Machtlosigkeit“ nicht in Panik und nicht in Depression zu verfallen, dann gab die doppelte Botschaft von Liebe und jüngstem Gericht in den Evangelien den leidenden, machtlosen Unterschichten im gesamten Mittelmeerraum Hoffnung und Kraft, sie begründete die urchristlichen Gemeinden, in denen eine neue Lebensform der Solidarität und Individualität entstand. Sie stiftete Bündnisse zwischen den leidenden Unterschichten und den Gebildeten unter den Gegnern der römischen Kaiser.

Peu à peu wurden die Christen für die römische Herrschaft gefährlich, aber auch die Lehre Jesu ist nicht gefeit gegen ihre Anpassung an die realen Machtverhältnisse. Theologen sortierten aus, was zu radikal oder zu weiblich war. Es entstand eine Hierarchie der Glaubenswahrheiten und eine Hierarchie zugelassener Interpreten für eben diese Wahrheiten. Und dann, im vierten Jahrhundert, als ein römischer Kaiser in Nöte kam und die alten Götter Roms verblassten, machte Konstantin den kosmopolitischen Unterschichtenglauben zur Staatsreligion, und sicherte ihm seinen Siegeszug in der Welt.

Etwa zu der Zeit wurde die Bibel nicht mehr weitergeschrieben, sondern – wie van Schaik und Michel in ihrem Buch bemerken – schockgefroren: Die Interpretation der Welt wurde zur Sache der Theologen – weitestgehend unter der machtvollen Oberaufsicht der Kirche.

Mit der Entstehung des Monotheismus waren die Herrscher der Welt entgöttlicht worden und die Gesetze des Zusammenlebens geheiligt, nun legitimierte die Allianz der christlichen Kirche mit den weltlichen Mächten die Ordnung der Welt als von Gott gewollt.

Im Laufe der nächsten Jahrhunderte entfernten sich die Vorstellungen vom Reich Gottes und die irdische Welt immer weiter voneinander. Das Heil war ins Jenseits verlegt, auf Erden war dem Kaiser und seinen Vasallen zu gehorchen; die Mühsal zu ertragen war eine Investition auf das ewige Leben in Seligkeit.

Die Bilder vom Leben nach dem Tod, das die Juden noch nicht so recht kannten, wurden immer schöner. An die Decke der Kirchen wurde die Himmelspforte gemalt, die Hölle erfunden. Zu Beginn der Neuzeit rechtfertigten Theologen den Bereicherungstrieb, begleitete die christliche Mission die Eroberung der Welt durch die europäischen Machthaber. Aber Theologen und Priester führten auch die Revolten gegen die Mächtigen an – mit Worten und mit Waffen.

Nur die Bibel blieb von all dem unberührt. Zwar führte Augustinus das zweite Buch Gottes ein: die Natur, aber mit der Renaissance, der Wiederentdeckung der
griechischen Naturphilosophie und der antiken Wissenschaften begann die christliche Einheit von Kosmologie, Morallehre und Jenseitsverheissung unwiderruflich zu zerfallen – außer in der christlichen Mystik und die hatte es schwer.

Das Versprechen eines Jenseits ohne Hunger, Mühsal, Herrschaft und Unterdrückung ging von den Kirchen an die Naturwissenschaften, die Technik und den Kapitalismus über. Der schuf enormen Reichtum, wenn auch bis heute auf Kosten des globalen Südens. Konsum und Wachstum wurden zu einer Art Weltreligion, die alle unsere Tätigkeiten überformt.

Und unsere Gattung wuchs von einer zerstreuten Zahl vorgeschichtlicher Nomaden-clans zu einer milliardenstarken Menschheit, die sich den Planeten und alles, was auf ihm lebt, einverleibt. Und nun vermüllt der Abfall dieser Errungenschaften den Planeten; die Energie, die es braucht, diese Weltmaschine in Gang zu halten, führt uns in einen Klimawandel, dessen Konsequenzen ähnlich dramatisch sein werden wie die der letzten großen Umwälzung, die in die Sesshaftigkeit führte.

Aber diesmal haben wir die Katastrophe vor Augen. Wir besitzen ein Inventar all der Lebewesen, die schon vernichtet sind, und wir haben berechnet, wann die Folgen der Welterwärmung unerträglich werden. Diesmal kommt die Katastrophe nicht von außen. Wir sind das Klima – so der Titel des frischen Bestsellers von Jonathan Foer, eine Bußpredigt à la Jeremias. Er ist nicht der einzige Prophet. Seit einem halben Jahrhundert erheben Wissenschaftler, Philosophen, Theologen, ihre mahnenden Stimmen.
Weil wissenschaftliche Warnungen zwar intellektuell überzeugen können, aber gegen die Verlockungen der Konsum-Religion nicht ankommen, versprechen sich selbst säkulare Denker seit einiger Zeit von einer „Wiederkehr der Religion“ eine Stärkung gegen die „entgleisende Moderne“. Und in der Tat gibt es abgefahrene asketische Aussteigerbewegungen, esoterische Spiritualitäten, neoheidnische Rituale und, natürlich, tausende von christlichen Initiativen zur Bewahrung der Schöpfung – eine polyzentrische pluralistische Opposition gegen die Strategen der unendlichen Steigerung.

Und seit kurzem erfüllen die weltweiten Aktionen der Millionen von Jugendlichen den öffentlichen Raum. „Warum glaubt Ihr nicht der Wissenschaft?“ fragt eine junge Frau aus Schweden, und sticht damit ins Herz des neuzeitlichen Glaubens, versetzt die Politik in panische Reaktionen und erzeugt eine globale Massenbewegung, die immer noch anwächst.

Religion hat einen heißen Kern, sie kommt immer ins Spiel, wenn es ums Ganze geht: um das Ganze unseres Lebens, das sich ändern muss. Und so ist es kein Wunder, dass die Erscheinung Greta Thunbergs auf der Weltbühne theologisch wahrgenommen wird: einerseits von den Verharmlosern und Abwieglern, die vor apokalyptischem Radikalismus oder irrationaler Sektiererei warnen; und auf der anderen Seite begrüßen die Bischöfe von Berlin, Hildesheim und Münster Greta Thunberg als Prophetin – und werden nicht nur von Pöblern im Netz, sondern auch von struktur-konservativen Amtsbrüdern massiv kritisiert.

Es ist kein letztes Gericht, das sich da ankündigt, aber die ebenso ökologische wie ökumenische Botschaft des Papstes in seiner Enzyklika „Laudato Si“, seine scharfen
Attacken auf den „Imperialismus des internationalen Finanzkapitals“, Fridays For Future und zehntausende von Wissenschaftlern weltweit – es scheint, wir leben in einer Zeit, in der neue Bündnisse entstehen.

Bis jetzt reagieren noch die struktur-konservativen politischen und wirtschaftlichen Eliten mit Beschwichtigung, halbherzigen und ineffektiven Gesetzespaketen oder Verschärfung ihrer Lobbyarbeit. Aber wenn ein Weltkonzern wie Exxon nun verklagt wird, weil seinen Managern vorgeworfen wird, seit Jahrzehnten gewonnene Erkenntnisse über den Klimawandel verschleiert zu haben; oder wenn Abwiegelung mit Stimmentzug bei Wahlen quittiert wird, dann könnte auch in diesen Kreisen Panik um sich greifen.

Ob die Propheten und die sozialen Bewegungen dann unterdrückt werden, oder ob es eine konstantinische Lösung geben wird: also die Mächtigen sich an die Spitze der Bewegung stellen, das wird unter dem offenen Himmel der Geschichte entschieden werden.

Die Bibel, und um die ging es ja auch in diesem Beitrag, berichtet von der jahr-tausende währenden Transformation im Leben des homo sapiens zu Beginn des Holozäns. Soziale Bewegungen, Katastrophen, Kriege, und die daraus folgenden neuen Regeln und Mentalitäten haben ihren Niederschlag in dieser großen Erzählung gefunden.

Der Übergang, vor dem wir jetzt stehen, wird nicht so viel Zeit haben, sein Ausgang ist unklar. Aber die Bibel so zu lesen: als den poetischen Ausdruck einer langen, windungsreichen Menschheitsgeschichte, hin zu immer mehr Aufklärung, immer mehr Gleichheit, als den Ausdruck einer Bewegung, die lange vor uns angefangen hat – vielleicht strahlt das ja eine kleine messianische Energie aus, die uns Mut macht zur Erkenntnis und Bewältigung unserer prekären Lage und ein wenig mehr Kraft gibt, diese Geschichte zu einem guten Ende zu bringen und etwas Neues anfangen zu lassen.

Ob es gut ausgeht oder böse: das, was wir jetzt erleben, an Propheten und Buß-predigten, an großen Ängsten und kleinen Aufbrüchen, an Sehnsucht nach einem umfassenden Exodus aus einer Welt, die immer bedrängender und unübersichtlicher wird, an neuen politischen Werkzeugen im Arsenal der Weltbewältigung und an neuen Formen des Zusammenlebens – alles das wird irgendwann in einer großen Erzählung erinnert werden.
Aber auf absehbare Zeit schreiben wir erst einmal alle an dieser Erzählung mit. Und wie wir das tun, das wäre doch vielleicht wirklich ein Thema für einen pluralistischen, multireligiösen, ergebnisoffenen Religionsunterricht für alle. Ein großes Bildungsthema eben.

* Florian Breitmeier, Soziologe und Autor; schreibt u.a. Essays für den Norddeutschen Rundfunk (NDR), Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung, die deutsche Ausgabe von le monde diplomatique und die tageszeitung (taz). Quelle: NDR-Kultur Glaubenssachen, ARD-Themenwoche Zukunft Bildung, 10.11.2019.

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