Melanie Reinsch: „Die Hälfte fehlt“

Frauen verdienen im Laufe ihres Lebens knapp 50 Prozent weniger als Männer – das zeigt eine Studie vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Außerdem gibt es immer noch große Differenzen bei Aufstiegs- und Partizipationsmöglichkeiten. Melanie Reinsch* referiert, analysiert und argumentiert:

Frauen sind in Deutschland so gleichberechtigt wie nie zuvor. Theoretisch. Denn ein genauerer Blick zeigt: Die Lebensrealität ist eine andere. Und damit sind keine gefühlten Wahrheiten gemeint, die von Frau zu Frau und Mann zu Mann vielleicht anders bewertet werden. Sondern es geht um nackte Zahlen, die aufzeigen, dass auch und vor allem auf dem Arbeitsmarkt zwischen Männern und Frauen eine eklatante Lücke klafft, die mit Chancengleichheit und Gleichberechtigung nicht mehr viel gemein hat. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat diese Unterschiede zusammengefasst und kommt zu dem Ergebnis, dass es bei Partizipations-, Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten zwischen Männer und Frauen immer noch große Differenzen gibt.

Da ist zum einen der populäre Gender Pay Gap, der auf die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen aufmerksam macht. Die SPD warb im Wahlkampf mit dem Slogan „Wer als Frau 100 Prozent leistet, darf nicht 21 Prozent weniger verdienen“. Irreführend, sagten Kritiker. Richtig ist, dass man unterscheiden muss: Die „unbereinigte“ Lohnlücke pendelte sich in den vergangenen Jahren bei rund 21 Prozent ein und liegt damit weit über dem Durchschnitt der OECD-Länder (15 Prozent).

Gender Pay Gap und Frauenanteil in den häufigsten Berufen (Auszug)

In dieser Rechnung werden die absoluten Bruttostundenverdienste zusammengerechnet, ohne geschlechtsspezifische Unterschiede bei Berufen, Branchen, Karriere, Berufserfahrung, Arbeitszeit, Familienbeziehungen oder Berufserfahrung zu berücksichtigen. Der „bereinigte“ Gender Pay Gap tut dies wiederum. In dieser Rechnung werden diese Faktoren herausgerechnet. Daraus ergibt sich trotzdem noch eine Lücke im Verdienst. Sie liegt bei rund sechs Prozent.

Wie verheerend die Folgen sind, zeigt eine zweite Zahl, die man erhält, wenn man auf das gesamte Lebenserwerbseinkommen einer Frau im Vergleich zu dem eines Mannes schaut: Eine Frau verdient im Laufe ihres Lebens knapp 50 Prozent weniger als ein Mann (Gender Lifetime Earnings Gap). Ein Beispiel: Mehr als doppelt so viele Männer beziehen jährlich mehr als 40 000 Euro Bruttoeinkommen als Frauen. Ab einem Einkommen von 75 000 Euro machen die Frauen nur noch ein Fünftel aus.

Zwar zahlen Frauen auch weniger Einkommensteuer, und ihre durchschnittlichen Steuerbelastungen sind insgesamt niedriger, aber vor allem in den unteren und mittleren Einkommensgruppen sind die finanziellen Belastungen der Frauen deutlich höher als bei Männern mit gleichen Einkommen. Ein Grund: Verheiratete Frauen, die als `Zweitverdienerin´ meist weniger verdienen und wegen des Ehegattensplittings einen höheren Steuersatz zahlen als zum Beispiel eine ledige Frau, die nicht in diese Steuergruppe fällt.

Gründe für den Gender Pay Gap gibt es zahlreiche, ein wesentlicher ist die unterschiedliche Bezahlung „typischer Frauenberufe“ und „typischer Männerberufe“. Aber auch innerhalb der Berufe gibt es erhebliche Unterschiede – das gilt für „typische“ Männerberufe genauso wie für Frauenberufe. So weist beispielsweise der Beruf mit dem höchsten Frauenanteil (Sprechstundenhelfer oder Sprechstundenhelferin) mit 43 Prozent die höchste Lohnlücke unter den 30 häufigsten Berufen auf. Ein Zusammenhang zwischen Frauenanteil im Betrieb und Lohnlücke konnten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht feststellen.

In Branchen, in denen mehr Beschäftigte im öffentlichen Dienst arbeiten, ist die Lohnlücke geringer. „Die Vermutung liegt nahe, dass das damit zusammenhängt, dass der Spielraum für Lohnverhandlungen im öffentlichen Dienst aufgrund der Tarifstruktur geringer ist als im privaten Sektor“, erklärte Katharina Wrohlich, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Gender Studies am DIW Berlin. Daraus lasse sich des Weiteren die Hypothese ableiten, dass mehr Transparenz bei der Entlohnung aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in einem Unternehmen tatsächlich auch zu einem geringeren Gender Pay Gap im Privaten Sektor führen könne, so Wrohlich. Allerdings gibt es auch Berufe, in denen der Gender Pay Gap kaum oder gar nicht vorhanden ist. Dazu gehören zum Beispiel Kraftfahrzeuginstandsetzer/Kraftfahrzeuginstandsetzerinnen, Kindergärnerinnen/Kindergärtner oder auch Kellnerinnen/Kellner.

Da in Deutschland die Rente aus den gesetzlichen Rentenversicherungen wiederum vom Lohn abhängt, ist auch klar: Wenn Frauen ihr Leben lang weniger auf dem Konto haben, hat dies Folgen im Alter. Frauen beziehen dadurch nämlich 53 Prozent weniger Rente als Männer. Ein Blick ins Nachbarland zeigt, dass es anders geht. In Dänemark beträgt der Unterschied nur 24 Prozent und auch in Frankreich ist er deutlich geringer als in Deutschland.

Die Autoren des DIW-Berichtes vermuten auch einen Zusammenhang zwischen dieser Rentenlücke zwischen Männern und Frauen und der Anfälligkeit von Depressionen. „Ein kausaler Zusammenhang lässt sich durch die Studie nicht ableiten“, aber die Ergebnisse anderer Studien deuten darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen der „individuellen wirtschaftlichen Situation“ und der Gesundheit gebe. „Übertragen auf das Einkommen im Alter können dies bedeuten, dass ein egalitärer verteiltes Einkommen im Ruhestand sich auch auf eine egalitär verteilte mentale Gesundheit in die Gesellschaft auswirkt“, schreiben die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen.

*Melanie Reinsch, Frankfurter Rundschau, 26.10.2017, Seite 14.

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