Michael Borgolte, Jahrgang 1948, ist seit 1991 Professor für mittelalterliche Geschichte an der Berliner Humboldt Universität. In seinem Beitrag über `die Suche nach einem besseren Leben im Römischen Reich´, vertritt er die Auffassung, dass es [in der Menschheitsgeschichte] eine `Völkerwanderung´ noch nie gegeben habe:*
Hier in Europa sind wir alle Zugewanderte. Die vielleicht größte Revolution der Menschheitsgeschichte, der Ackerbau, wurde uns vom Migranten gebracht.
…. Welthistorisch gesehen gibt es keine größere Kraft der Veränderung als die Migration.
Es wird wieder von „Völkerwanderung“ gesprochen. Die Wissenschaft hatte sich von diesem Begriff bereits verabschiedet und sprach von Migrationen. Was halten Sie von „Völkerwanderung“?
Der Begriff wurde von Humanisten geprägt. Der Wiener Wolfgang Lazius schuf ihn in seiner 1557 gedruckten Schrift „De gentium aliquot migrationibus“ („Über die Wanderungen einiger Völker“).Er wandte sich damit gegen die aus der Tacitus-Interpretation gewonnene Vorstellung von territorial fest gebundenen, statischen germanischen Gemeinschaften. Aber er schoss weit über das Ziel hinaus. Völker sind niemals gewandert. Auch während der „Völkerwanderung“ wanderten ethnisch sehr unterschiedlich zusammengesetzte Gruppen, die erst auf dem Boden des Römischen Reiches unter stabileren Königtümern zu Völkern konsolidiert wurden. Römer und Griechen hatten ihnen Namen gegeben. Aber die bezeichneten nicht nur keine homogenen ethnischen Gruppen, sondern es wurden auch sehr unterschiedliche Gruppen mit denselben Namen bezeichnet. Manche Gruppierungen gaben sich auch ganz bewusst Namen anderer [Bevölkerungsgruppen], in deren Tradition sie sich stellen wollten.
Aber diese gentes brachten dann, zu einer politischen Kraft geworden, das Römische Reich zum Einsturz?
Das Römische Reich brach nicht an den Migranten zusammen, sondern umgekehrt: Es war zusammengebrochen und darum unfähig geworden, die Migranten zu integrieren. Im römischen Reich gab es ein politisches Vakuum. In das stießen die Immigranten, sie füllten es aus. Die einzelnen gentes umfassten nicht mehr als einige Tausend Menschen. Diese [Bevölkerungsgruppen] ließen sich irgendwo nieder. Dann brachen einige von ihnen wieder auf. Ihnen schlossen sich andere an. Von den Langobarden weiß man zum Beispiel, dass sich ihnen, als sie in Italien einmarschierten, 20 000 Sachsen angeschlossen hatten. Auch während der sogenannten Völkerwanderung ging die Zahl der Migranten nicht über ein bis zwei Prozent der Einwohnerzahl des Römischen Reiches hinaus.
Wenn es nicht die Zahl der Migranten war, was ruinierte dann das Römische Reich?
Wichtig war, dass die Migranten zentrale Positionen einnahmen, dass es zu einem Austausch der Eliten gekommen war. Die Quellen zeigen uns das zum Beispiel in Nordafrika sehr deutlich. Die Migranten mussten, um diese Sprengkraft entfalten zu können, Parallelgesellschaften entwickelt haben, parallele Identitäten. Also gleichzeitig Bürger des Römischen Reiches und selbstbewusste Mitglieder und Führer ihrer [Gemeinschaften] sein. Jahrhundertelang waren aus Germanen römische Soldaten geworden. Das hatte dem Römischen Reich nicht geschadet. Die Männer und ihre Familien wurden integriert. Erst als die Institutionen geschwächt waren, wurde das zu einem Problem. Da begannen zum Beispiel die Soldaten eine ganz neue Rolle zu spielen. Manche, die bisher römische Offiziere gewesen waren, wurden Heerführer germanischer [Gemeinschaften], die marodierend durch das zerfallende Römische Reich zogen und einzelne Städte und deren Territorien eroberten. Sie konnten das Römische Reich gewissermaßen von innen her aufrollen.
Was hat die „Völkerwanderung“ mit den heutigen Entwicklungen zu tun?
Vergleichbar ist, dass es damals wie heute gerade keine Völkerwanderungen waren. Es machen sich heute und es machten sich damals politisch unorganisierte Gruppen auf den Weg, um bessere Lebensverhältnisse zu finden. Damals wie heute gibt es keine Führer, die große Verbände nach Europa bringen, sondern es fand damals und findet heute eine sogenannte Kettenmigration statt. Migrationsziele und -wege sprechen sich gewissermaßen rum. Das führte damals und führt heute dazu, dass nach einer Weile viele dieser kleinen Gruppen, die sich nach und nach aus ihren Herkunftsländern entfernt haben, in großer Zahl in den Zielländern wieder zusammentreffen.
Soweit so ähnlich. Was kann man nicht vergleichen?
Den Zustand des Römischen Reiches mit dem des heutigen Europa. Das Römische Reich war ab dem Ende des 4. Jahrhunderts marode. Es war nicht in der Lage, die hineindrängenden Gruppen aufzunehmen. Davon kann bei uns heute nicht die Rede sein. Unser politisches System ist leistungsfähig. Es wird durch die Zuwanderung nicht erschüttert. Es gibt temporäre Probleme, aber es kann nicht im Ernst davon die Rede sein, dass die staatlichen Strukturen heute erschüttert wären.
Aber stehen wir nicht erst am Anfang einer Entwicklung?
Wenn man etwa aus der sogenannten Völkerwanderung lernen sollte, dann die Einsicht, dass die Immigranten sich auf dem Boden des Römischen Reiches so organisieren konnten, dass sie in der Tat einen Umsturz des Römischen Reiches bewirkten. Aus meiner Sicht kommt es heute darum darauf an, die Integration so zu gestalten, dass die Migranten sich nicht in Diaspora- und Parallelgemeinschaften von der aufnehmenden Gesellschaft absetzen oder von ihr dorthin verdrängt werden. Es dürfen keine Ghettos entstehen. Vor allem dürfen die Migranten sich nicht als Migranten organisieren.
Aus Ihrer Darstellung könnte man den Eindruck gewinnen, die Migranten seien damals einfach zu gut integriert gewesen. Wenn ein Elitenaustausch stattfand! Genau darum sind doch heute viele gegen Integration.
Aber es ist doch wirklich nicht damit zu rechnen, dass bei uns ein Elitenaustausch stattfinden wird. Die Syrer, die jetzt kommen, werden doch nicht in kurzer Zeit unsere Eliten ersetzen. Das kann ich wirklich nicht sehen. Wohl aber ist zu erwarten und zu hoffen, dass es durch die Zuwanderer innovative Impulse geben wird. Die Situation heute ist mit der des Römischen Reiches nicht zu vergleichen. An der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Stabilität unseres Landes kann doch wirklich nicht gezweifelt werden.
Auch nicht an der Stabilität Europas?
Die ist sicher von Land zu Land unterschiedlich. Europa ist zurzeit sehr unflexibel, aber nirgendwo in Europa verfügen die Migranten über die militärische Gewalt, sie organisieren sich nicht als abgekapselte Machtfaktoren. Die Politik ist meines Erachtens dazu aufgefordert zu verhindern, dass die Migranten sich abschotten und sich in dieser Situation organisieren. Integration muss dezentral geleistet werden. Es darf keine Parallelgesellschaften geben, die sich organisieren, um der Mehrheitsgesellschaft ihre Partikularinteressen aufzuzwingen. Natürlich müssen nicht nur Immigranten sich verändern. Auch die Einheimischen müssen das tun. Es muss ein Ausgleich hergestellt werden, der die neuen Kräfte der Gesamtgesellschaft nutzbar macht.
Besteht nicht jede Gesellschaft aus Parallelgesellschaften?
Es kommt aber darauf an, ob die politischen Gruppierungen sich als Teil des gesellschaftlichen Kosmos verstehen oder als Abschottungsgemeinschaften. Natürlich kann Integration auch über die Wahrnehmung von Partikularinteressen stattfinden. Das tut immer wieder, aber wünschenswerter ist doch, dass die Wechselbeziehungen an jeden Ort stattfinden.
Also keine autonome Frauenbewegung, sondern die Frauen sollen in die bestehenden Organisationen gehen?
Das ist ein gutes Beispiel. Die autonome Frauenbewegung – ganz ähnlich den anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen – hat die bestehenden Organisationen nicht ersetzt. Sie hat Druck erzeugt und ihnen dabei geholfen, sich zu ändern. Etwas ganz Anderes wäre es, wenn es einen Kampf darum gebe, zum Beispiel unser Rechtssystem durch die Scharia zu ersetzen. So alternativ darf die Frage nicht gestellt werden. Es wird um eine Integration gestritten werden. Es darf nicht darum gehen, dass ein paar – oder gar weniger als ein Prozent – der Bevölkerung dem Rest ihren Willen aufzwingen. Wir müssen aber ganz sicher Wege finden, dass die Neuankömmlinge sich unserer Gesellschaft zugehörig fühlen können ohne ihre ganze Identität aufgeben zu müssen.
Gesellschaften verändern sich doch auch, indem einzelne Gruppen aus einem bisher festen Verband ausscheren und sich absetzen. Wir hatten kürzlich den Jahrestag eines solchen Ereignisses: den der Reformation.
Das gibt es natürlich immer und überall. Mal so gravierend wie die Reformation, meist aber deutlich weniger folgenreich. Aber die Menschheit – wie andere Arten auch – hat sich durch Migration über die Erde verbreitet. Hier in Europa sind wir alle Zugewanderte. Die vielleicht größte Revolution der Menschheitsgeschichte, der Ackerbau, wurde uns vom Migranten gebracht. Die Verbreitung des Christentums, des Islam geschah nicht in erster Linie durch den Export der Heiligen Schriften, sondern durch Missionare. Es ist nicht der Transfer von Texten oder Gegenständen, der Gesellschaften nachhaltig bereichert. Es sind die Menschen. Welthistorisch gesehen gibt es keine größere Kraft der Veränderung als die Migration.
Kein Wunder, dass die Menschen Angst davor haben.
Wir sind stärker, als die Angsthasen meinen. Ich sage mit Frau Merkel: Wir schaffen das. Wenn wir unsere administrativen und politischen Fähigkeiten gut einsetzen und denen, die kommen, die Chancen geben, die sie brauchen, um sich zu entfalten. Nur so können wir unsererseits von ihren Fähigkeiten profitieren.
Welche Fähigkeiten wären das?
Abgesehen von den sehr spezifischen Fertigkeiten der Einzelnen, ist da doch schon einmal der entscheidende demografische Faktor. Die weitaus überwiegend Mehrzahl der Immigranten sind junge Leute. Diese Menschen suchen nach Chancen für ihr Leben. Ich bin davon Überzeugt, dass in den Augen der ja sehr rationalen Angela Merkel dieser demografische Faktor eine wichtige Rolle spielt. Zur Erinnerung: Als das Burgunderreich keine Jugend mehr hatte, zogen burgundische Truppen los nach Italien und verschleppten in einer Reihe von Razzien Zehntausende junger Provinzialrömer auf ihr Territorium.
*Quelle: FEUILLETON, FrankfurterRundschau, 09.11.2015, Seite 20-21 (Interview: Arno Widmann);
Für politisch Interessierte empfiehlt sich insbesondere: Michael Borgolte. „Christen, Juden, Muselmanen – Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400“. Siedler Verlag
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