Benjamin Ortmeyer: Ohne Konflikt geht es nicht

Benjamin Ortmeyer*, Leiter der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität, hält in dieser Woche seine letzte Vorlesung. Ein Gespräch über humanistisch gebildete Lehrkräfte, eine „Erziehung nach Auschwitz“ im Sinne Adornos und den Wert des Streits.

Ehe Benjamin Ortmeyer über sich selbst und seine Arbeit spricht, redet er von Trude Simonsohn. Die Auschwitz-Überlebende und Frankfurter Ehrenbürgerin wird am 1. Februar Ortmeyers letzter Vorlesung vor dem Ruhestand als Ehrengast beiwohnen. Jahrzehntelang arbeitete Ortmeyer mit ihr zusammen in dem Bemühen, Jugendliche und junge Erwachsene über die NS-Diktatur aufzuklären – ob in seiner Zeit als Lehrer oder in den vergangenen Jahren als Professor und Leiter der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität. Sein dortiges Werk hat Ortmeyer in übersichtlich beschrifteten Ordnern und Kisten zu Schlagworten wie „Antisemitismus“, „Widerstand“ oder „NS-Prominenz/Täter“ geordnet.

°Herr Ortmeyer, Sie halten in dieser Woche Ihre letzte Vorlesung. Wie gestaltet man einen solchen Termin?

Die Vorlesung gibt einen Überblick über die zweisemestrige Vorlesung, die ich viele Jahre gehalten habe, zum Thema NS-Verbrechen, NS-Ideologie, NS-Pädagogik und die Zeit nach 1945. Die Grundidee ist, Studierenden der Pädagogik, egal, welches Lehramt sie später ausüben, die Problematik von Manipulation und Pädagogik verständlich zu machen. Das ist eine Grundlage für alle, die den Lehrberuf wählen. Leider konnten wir nicht durchsetzen, dass diese Idee einer zweisemestrigen Vorlesung fester Bestandteil des Curriculums ist.

°Warum finden Sie es so wichtig, dass Lehramtsstudierende sich mit dieser Thematik beschäftigen – unabhängig davon, ob sie später Geschichte unterrichten?

Weil das ein Beruf ist, der zwei Seiten hat. Einerseits geht es darum, für die Profitwirtschaft gut ausgebildete Arbeitskräfte heranzuziehen. Aber die eigentliche Funktion von Pädagogik ist Bildung. Dass man möglichst weltoffen ist, sich auch ein bisschen auskennt in der Welt. Und um die Welt heute zu verstehen, muss man auch die Geschichte kennen, insbesondere der NS-Zeit. Eine demokratisch-humanistische Orientierung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer halte ich für viel entschiedener als die fachliche Ausbildung. Denn wenn es in der Geschichte Deutschlands an etwas gehapert hat, dann gerade an couragierten, klugen, an Gerechtigkeit orientierten Lehrkräften.

°Wie kann jemand, der Mathe, Physik oder Sport unterrichten wird, dieses Wissen im Schulalltag anwenden?

Auch im Sport- oder Mathematikunterricht fallen üblichen Beschimpfungen von Jugendlichen, die „du Spasti“ sagen und nichts wissen über Eugenik und Euthanasie in der NS-Zeit. Die vielleicht „du Scheißjude“ oder “du Scheißzigeuner“ sagen, ohne etwas von Auschwitz zu wissen. Wenn dann die Lehrkraft lediglich sagt, „komm, lass das. Gebt euch die Hand und vertragt euch wieder“, dann ist das einfach zu wenig. Eine Lehrkraft muss, schon bevor es Vorfälle gibt, klar sagen dass es Streit und Schimpfwörter geben kann, aber auf gar keinen Fall Nazisprüche. Und dann zeigt die Lehrerin oder der Lehrer glasklar auf, wo die rote Linie verläuft. Ich stehe in erster Linie auf der Seite derjenigen, die verfolgt, diskriminiert und beleidigt werden. In unserer Vorlesung hat man erfahren, was sich die jüdischen Schülerinnen und Schüler in der NS-Zeit gemerkt haben: Das war der kleinste Akt der Solidarität.

°Ist das Ihr Verständnis von Adornos Forderung einer „Erziehung nach Auschwitz“?

Ja, kurze Antwort.

°Spielt diese Erziehung an hessischen Schulen und Hochschulen eine ausreichend große Rolle?

Nein! Auch kurze Antwort.

°Spielt sie überhaupt eine Rolle?

Es gibt sicher an jeder Universität mal Seminare, da gehen die üblichen Interessierten hin. Es geht mir aber ja darum, dass es flächendeckend als Selbstverständlichkeit angesehen wird. So wie man eine Vorlesung über die Klassiker der Pädagogikhält, um einen Überblick von Platon bis heute zu geben, so muss es eben auch selbstverständlich sein sie über NS-Ideologie, -Verbrechen und –Pädagogik an der Universität zu informieren.

°Sie haben immer stark die Einbeziehung von Zeitzeugen betont. Warum ist das so wichtig – und wie wird sich die Bildung über die NS-Zeit ändern, wenn in naher Zukunft keiner dieser Menschen merh lebt?

Wenn Trude Simonsohn vor 1000 Menschen im Hörsaal spricht und man keine Stecknadel fallen hört – das sind Eindrücke, die Studierende fürs Leben behalten. Da ist sofort spürbar, dass die unmittelbare Erfahrung durch nichts zu ersetzen ist. Ich bin sehr froh, dass ich bis zum Schluss hier an der Universität mit Trude Simonsohn zusammenarbeiten konnte. Wir haben in den 80er Jahren in den Schulen begonnen, als ich noch Lehrer war. Über das Unvermeidliche möchte ich heute eigentlich noch nicht reden – das fände ich ein Stück weit respektlos gegenüber denjenigen, die heute noch leben. Es gibt darauf auch gar keine Antwort, sie sind nicht zu ersetzen. Aber auch, wenn der unmittelbare Kontakt zu Menschen, die in Auschwitz waren, dereinst nicht merh da sein wird, muss die Möglichkeit, darüber zu informieren, genutzt werden.

°Sie sind Jahrgang 1952. Was war der Auslöser, dass Sie sich so intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben?

Ich würde die Frage umdrehen: Warum machen andere das nicht?

°Sie haben recht. Jeder sollte sich damit beschäftigen. Aber nicht jeder tut es so intensiv wie Sie.

Ich brauchte dafür keinen besonderen Anlass. Es war klar, auch vom Elternhaus her, dass ich gegen diese Naziverbrecher bin.

°Gerade in Ihrer Generation gab es aber ja oft einen deutlichen Bruch mit der Elterngeneration.

Mein Elternhaus hat meine Aktivitäten unterstützt. Das ist nicht ganz unwichtig. Ich bin natürlich 1967 gegen die NPD auf die Straße gegangen. Und es waren natürlich die alten Nazilehrer, die genervt haben. Natürlich auch die Situation, dass Kiesinger, der bei Goebbels im Propagandaministerium gearbeitet hatte, auf einmal Kanzler wurde. Und natürlich habe ich mich gefreut, als Beate Klarsfeld Kiesinger geohrfeigt hat. Das waren Schritte meiner Sozialisation.

°Warum haben Sie sich für den Lehrerberuf entschieden?

Es ist eine wunderbare Herausforderung, sich jeden Tag mit anderen Menschen auseinanderzusetzen. Mir war es immer wichtig, Schülerinnen und Schüler zu unterstützen. Ich war lange Vertrauenslehrer, auch Verbindungslehrer der Stadt Frankfurt. Da ging es natürlich auch darum, Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, wenn sie politisch aktiv werden wollten. Ich war immer der Meinung, politisches Engagement an der Basis ist entscheidend, nicht das, was da oben passiert. Dass Schülerinnen und Schüler einen demokratischen Stil im Unterricht erfahren, lernen sich zu wehren, wie man in der Demokratie demonstriert, streikt, politische Aktionen durchführt. Das als Lehrer zu forcieren, das hat mir immer viel Spaß gemacht.

°Das Ende Ihrer Lehrerlaufbahn war konfliktreich. Sie wurden zwangsversetzt, wechselten in der Folge an die Goethe-Universität. Wie blicken Sie rund 20 Jahre später darauf zurück?

Die Frankfurter Rundschau hat damals treffend getitelt, es wäre „öfter klüger, mal den Mund zu halten“. Das hatte der Amtsjurist mir in Anwesenheit meines Anwalts gesagt. Das war eine enge, kleingeistige Sache. Es ging unter anderem um die Umbenennung der August-Henze-Schule, eines Eugenik-Befürworters. Der Vorsitzende der Schulleiterverbindung ist gegen mich vorgegangen. Das sind so die üblichen Mätzchen, wenn man Leuten Dinge sagt, die sie nicht hören wollen. Und ich bin immer massiv mit dem Problem konfrontiert gewesen, dass Nazis von den Schulleitungen, von der Schulbürokratie, nicht wirklich ernst genommen wurden. Insgesamt ist es eben so, dass man mit einem kritisch-politischen Engagement machen nicht so bequem ist. Damit muss man leben. Für mich ist das auch immer ein Spaßfaktor – zudem, wenn es Konflikte gibt, lernen die Leute mehr.

°Sie haben sich oft aktiv eingemischt. Sei es, dass Sie gegen das Deutschlandlied vorgegangen sind, sei es dass Sie Umbenennungen von Schulen oder die Einrichtung des Wollheim-Memorials an der Goethe-Universität vorangetrieben haben. Aktuell gibt es Konflikte innerhalb der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), um die Rolle von Max Traeger. Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle – sind Sie eher Forscher oder auch Aktivist?

Forschen und Handeln schließt sich ja nun überhaupt nicht aus. Theorie und Praxis sind für mich nicht strikt zu trennen. Ich bin Hochschulaktivist, ich bin Senator in der Goethe-Universität – für die GEW, das ist wichtig, weil ich ja der GEW momentan viele Vorwürfe mache. Ich beschäftige mich selbstverständlich mit hochschul- und gewerkschaftspolitischen Fragen und nehme die Argumente anderer Forscher auch als Argumente im politischen Handeln.

°Worum geht es Ihnen bei Ihrem Engagement im Kern?

Um Aufklärung. Und ein gewisses Staunen als Kernfrage der Philosophie. Wenn ich etwa frage, warum die GEW ihre Gewerkschaftsstiftung nach Max Traeger benennt, der nach 1945 offenbar nichts gelernt hat, dann weil es mich zunächst erstaunt. Das ist der Beginn einer konfliktträchtigen Auseinandersetzung. Die Gesellschaft für Erziehungswissenschaft hat einmal sehr schnell, innerhalb von nur einer Woche, einen Preis, der nach dem Nazikollaborateur Heinrich Roth benannt war, umbenannt – nachdem unsere Kritik an seiner Person laut geworden war. Dass die diesen Preis sofort umbenannt haben, fand ich gar nicht so gut, obwohl ich es gefordert hatte, denn dann gibt es keine Debatte. Die GEW wird Max Traeger nicht dauerhaft verteidigen können. Aber die Auseinandersetzung über diese Frage ist mir wichtiger als der reine Akt der Umbenennung.

°Sie suchen also stets bewusst die Reibung?

Nicht stets, öfters. Ich bin Konfliktpädagoge. Man muss sich mit Jugendlichen auseinandersetzen und fetzen. Das gehört dazu. Man muss schlichten, aber auch streiten können. Wenn ein Konflikt wichtig ist, sind Schlichter schädlich, weil sie nur akademische Watte drüberstreuen und die Frage der Relevanz eines Konflikts ausklammern.

°Haben Sie dabei Niederlagen einstecken müssen, die Sie besonders schmerzen?

Es gibt diese Liedzeile „aber dennoch hat sich Bolle ganz köstlich amüsiert“. Das ist schon ein Leitmotto für mich. Natürlich kriegt man Ärger, sei es bei meiner Schulzwangsversetzung damals oder auch an der Goethe-Universität, an der es bis vor zwei Jahren erhebliche Anfeindungen und Hindernisse gab. Aber es ist doch völlig klar, dass es nicht ohen Auf und Ab im Leben geht. Es geht nicht ohne Konflikt.

°Wie wird es mit der Forschungsstelle weitergehen?

Das Präsidium hat die Räume weiter zur Verfügung gestellt, das ist sehr wichtig. Auch wenn ich im Ruhestand bin, kann und werde ich noch jedes Semester als außerplanmäßiger Professor eine Veranstaltung abhalten, um unter anderen auch meine Doktoranden weiter zu betreuen. Meine Stelle ist ausgeschrieben. Gute Leute werden interimsmäßig für 18 Monate die Forschungsstelle leiten und es soll jetzt bald für die Zeit danach eine Professur ausgeschrieben werden. Damit ist dann garantiert, dass die Forschungsstelle nicht mit meiner Person zu Ende geht. In dieser Hinsicht kann ich mich beruhigt zurücklehnen.

°Aber ich nehme an, Sie persönlich werden auch in Zukunft nicht „öfter mal den Mund halten“?

Was soll ich darauf sagen – ich habe noch ein, zwei Buchprojekte zu schreiben und freue mich, dafür endlich mehr Zeit zu haben, weil ich nicht merh all diese Bürokratie am Bein habe. Ich will die Kritik an den sogenannten Klassikern der Pädagogik formulieren und das nur scheinbar leichte Thema „Humor und Pädagogik“ angehen. Jedes Schulkind wird Ihnen sagen, es ist furchtbar, wenn im Unterricht nicht auch mal gelacht wird.

INTERVIEW: Marie-Sophie Abeoso

*Benjamin Ortmeyer, 65, leitet die 2012 gemeinsam mit Micha Brumlik eingerichtete Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt/M. ER erforschte unter anderem die Rolle von Nazikollaborateuren in der Pädagogik und erwirkte bundesweit die Umbenennung zahlreicher Schulen, die etwa Peter Petersen gewidmet waren. Anhand von Berichten Überlebender zeigte er die alltägliche und systematische Ausgrenzung jüdischer Kinder und Jugendlicher in der Schule auf.

Von 1975 bis 2003 war Ortmeyer als Lehrer für Mathematik, Sozialkunde und Musik an verschiedenen Frankfurter Schulen tätig. Das Staatliche Schulamt ließ ihn 1999 von der Frauenhofschule an die Paul-Hindemith-Schule zwangsversetzen, gegen den Protest von Eltern-, Personal- und Schülervertretern sowie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Seine letzte Vorlesung vor dem Ruhestand hält Benjamin Ortmeyer unter dem Titel „Auschwitz ist kein Spezialthema“ am Donnerstag, 1. Februar 2018, um 18.15 Uhr im Casino, Raum 1.801, auf dem Campus der Goethe-Universität, Norbert-Wollheim-Platz 1. Sie ist den Auschwitz-Überlebenden Trude Simonsohn und Siegmund Freund gewidmet sowie dem Gedenken an Irmgard Heydorn, Valentin Senger, Karl Brozik und Herbert Rickie Adler.

Quelle: Frankfurter Rundschau, 30.01.2018, RheinMain, Seiten D6-D7.

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