„Mit seiner Obergrenze für Flüchtlinge stellt Österreich nationales Interesse über die Werte der Gemeinschaft. Damit ist Wien aber nicht allein. Auch Deutschland hat versagt“ gibt Andreas Schwarzkopf* in einem Leitartikel einer überregionalen Tageszeitung zu bedenken:
FRANKFURT, 21.01.2016: Österreich hat der Europäischen Union mit der beschlossenen Obergrenze für Flüchtlinge einen Bärendienst erwiesen. Wer glaubt, die Wiener Entscheidung brächte andere EU-Mitgliedstaaten dazu, ihre abwehrende Haltung gegenüber Hilfesuchenden zu überdenken und wider Erwarten doch noch mit Kanzlerin Angela Merkel die Flüchtlingsfrage gemeinsam anzugehen, der träumt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass viele der 28 Staaten einfach die hohe Zahl der Flüchtlinge unter sich aufteilen und auf diesem Wege die Lasten teilen, damit kein Land überfordert wird. Man muss also die Ankündigung des Alpenstaates als das nehmen, was sie ist: Wien setzt die falsche Flüchtlingspolitik fort, vertieft die Legitimationskrise der Union und liefert EU-Skeptikern und -Kritikern zusätzliche Argumente. Wenn kein politisches Wunder geschieht, droht der Staatenbund sogar zu scheitern.
Und das nicht nur, weil ein breites Bündnis österreichischer Politiker nationale Interessen über die Werte der Gemeinschaft gestellt hat. Sondern auch, weil Wien die Balkanstaaten zwingt, die Grenzen für Flüchtlinge undurchlässig zu machen – auch dort, wo dies wie in Slowenien noch nicht geschehen ist. Österreich will auf diesem Wege die Zahl der Hilfesuchenden verringern und so den politischen Zwist im Land befrieden. Aber wahrscheinlich werden sie dieses Ziel mit solchen Scheinlösungen nicht erreichen, denn viele Fragen blieben unbeantwortet.
Was geschieht mit jenen Flüchtlingen, die ankommen, nachdem das Kontingent ausgeschöpft ist? Macht Österreich nun die Grenzen auch dicht und führt die seit Jahrzehnten abgeschafften Grenzkontrollen wieder ein? Wird das den Warenverkehr behindern und damit die europäische Wirtschaft schwächen? Oder werden Richter gar die Entscheidung kassieren, weil sie gegen geltendes Asylrecht verstößt? Dies käme zu spät, um den angerichteten Schaden noch zu korrigieren.
Wer aber nur Österreich für diesen falschen Schritt kritisiert, wird dem Problem nicht gerecht. Die EU als Ganzes ist an der Flüchtlingskrise gescheitert und hat die eigenen Ziele konterkariert. Das fängt bereits mit der einsam getroffenen Entscheidung Merkels an. Es war und ist richtig, Flüchtlinge aufzunehmen. Doch hätte die deutsche Regierungschefin sich mit ihren Kollegen abstimmen müssen. Merkel kann zwar in diesem Fall zu Recht sagen, sie habe im Sinne der europäischen Werte gehandelt. Zugleich hat sie aber Deutschland weiter zur Hegemonialmacht gemacht.
Noch deutlicher wird dies an der Griechenlandkrise im vergangenen Jahr. Die Regierung Merkel hat auf Biegen und Brechen den neoliberalen Kurs gegen die leise und laut geäußerten Widerstände anderer EU-Staaten durchgesetzt. Damit und mit dem Mantra von der Wettbewerbsfähigkeit der Staaten sendete Berlin das Signal: Jedes Land muss sehen, wo es bleibt.
Ein ähnliches Handlungsmuster ließ sich bereits in der Flüchtlingspolitik erkennen, als die Kernstaaten der EU die Südländer wie Griechenland, Italien und Spanien mit diesem Problem alleingelassen und so das Mittelmeer jahrelang in ein Massengrab für Flüchtlinge verwandelt haben. Zu diesem Bild gehört, dass die Bankenkrise unter deutscher Führung mit Geld gelöst wurde, das später fehlte.
Die Menschen hierzulande müssen sich entscheiden, ob sie ein europäisches Deutschland haben wollen oder ein deutsches Europa. Für letzteres sorgen eher die Lösungen in der Banken- und der Griechenlandkrise. Die anhaltend niedrigen Löhne hierzulande erleichtern zudem Exporte deutscher Güter in die EU-Mitgliedstaaten. Sie sorgen aber dort auch für ein Handelsdefizit. Oder anders gesagt: Zum hiesigen Reichtum gehören die wirtschaftlichen Probleme der Nachbarn.
Wer sich für ein deutsches Europa einsetzt, stellt sich letztlich gegen eine funktionierende Union und damit gegen die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte wie einheitliche Währung, Reisefreiheit und vieles mehr. Das befördert aber auch politische Kräfte, die sich für eine Renationalisierung europäischer Staaten einsetzen. Und das kann keiner wollen.
Ein europäisches Deutschland müsste gegen das ökonomische Ungleichgewicht auch im eigenen Interesse angehen. Es müsste sich dafür einsetzen, die Währungsunion endlich in eine Wirtschaftsunion weiterzuentwickeln. Dann wäre es möglich, etwa mit einem Länderfinanzausgleich die ungleichen ökonomischen Entwicklungen zumindest ein wenig auszugleichen und damit die europäische Solidarität zu stärken
Zwar gibt es unter den 28 EU-Staaten derzeit keine Mehrheit für einen solchen Schritt. Ein Ausweg könnte aber ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten sein. Deutschland könnte beispielsweise mit Frankreich und anderen Staaten vorangehen und so den anderen einen Weg weisen, der die EU voranbringt. Wer dieses Ziel verfolgt, der argumentiert auch gegen Österreichs Obergrenze für Flüchtlinge und für eine gemeinsame europäische Lösung der Flüchtlingsfrage.
*Andreas Schwarzkopf, Leitartikel „Das Scheitern Europas“, FrankfurterRundschau 22.01.2016, 11
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