Marc Engelhardt: 70 Jahre Menschenrechte: Universalismus unter Beschuss

Noch nie standen die Menschenrechte, wie sie vor 70 Jahren in Paris niedergelegt wurden, derart unter Druck wie in diesen Tagen. Marc Engelhardt* resümiert und kommentiert:

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 wurden diese Rechte als universell verbrieft. Universell, das bedeutet: Diese Rechte und Freiheiten stehen jedem Menschen zu, „ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach [Rasse], Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“. So steht es in Artikel 2 der Erklärung, die mit den berühmten Worten beginnt:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“.

Genau diese Universalität aber wird von Regierungen auf der ganzen Welt zunehmend und systematisch in Frage gestellt. Schlimmer noch: Selbst die Legitimität und Notwendigkeit universeller Menschenrechte steht unter Beschuss. Der Angriff kommt dabei aus unterschiedlichen Richtungen: vom alten Hegemon USA, der aufstrebenden Weltmacht China und dem allerorten grassierenden nationalistischen Populismus. Einen Kristallisationspunkt dieser Kampagnen bildete zuletzt die Mobilisierung gegen den Globalen Migrationspakt der Vereinten Nationen als Ausdruck weltweiter Kooperation bei einer Menschheitsfrage.

Mutwillige Missachtung von UN-Normen

Rechtlich gilt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als „allgemeiner Grundsatz“. Ihre Klauseln erhalten daher erst Rechtswirksamkeit durch die völkerrechtlich bindenden Menschenrechtsabkommen. Zu ihnen gehören °der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, °der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie °sieben internationale Menschenrechtsabkommen, darunter die Anti-Folter-Konvention und die Kinderrechtskonvention.

Doch darüber hinaus verfügt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte über eine enorme symbolische Bedeutung. Und so ist die Tatsache, dass die Verstöße gegen sie immer zahlreicher und dreister werden, weder zufällig noch belanglos. Vielmehr handelt es sich um den bewussten Versuch, die Vereinten Nationen und die mit ihnen verbundenen Ideale zu schwächen. Wenn etwa US-Präsident Donald Trump die Justiz in seinem Land immer wieder „einen Witz“ nennt und Fernsehsender wie CNN als „Fake News“ bezeichnet, untergräbt er damit die Unabhängigkeit der Justiz (Art. 10 der Allgemeinen Erklärung) und die Freiheit der Presse (Art. 19). Das geschieht nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein. In der Türkei, in Russland, Polen und ungezählten weiteren Ländern weltweit sind eine unabhängige Justiz oder die freie Presse längst weitgehend ausgeschaltet.

Die Beispiele für die mutwillige Missachtung von UN-Normen sind zahlreich: Der Niederländer Geert Wilders will die Menschenrechte in seinem Land für Muslime außer Kraft setzen, was gegen Art. 2 verstieße. Die burmesische Regierung unter ihrer De-facto-Chefin Aung San Suu Kyi wiederum verweigert der muslimischen Rohingya-Minderheit die Staatsangehörigkeit im mehrheitlich buddhistischen Land. Gegen den philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte liegt eine Beschwerde vor dem Internationalen Strafgerichtshof vor, weil er in seinem „Krieg gegen die Drogen“ Massenmorde angeordnet haben soll, was das Recht auf Leben in Art. 3 ebenso verletzt wie das auf Schutz durch das Gesetz in Art. 7. Und der ungarische Premierminister Viktor Orbán versagt Flüchtlingen die Prüfung ihres in Art. 14 garantierten Rechts auf Asyl, das AfD-Chef Alexander Gauland gleich ganz abschaffen möchte.

Der Mythos vom westlichen Menschenrechtsimperialismus

Ein beliebtes Argument derjenigen, die gegen die Universalität der Menschenrechte zu Felde ziehen, lautet: Universelle Menschenrechte sind ein Mythos. In Wirklichkeit versuche der Westen, der Welt seine Werte aufzudrücken. Tatsächlich aber ist nicht die Universalität der Menschenrechte ein Mythos, sondern diese Behauptung. Sie wird vor allem von jenen verbreitet, die Menschenrechte durch „Traditionen“ oder „Kultur“ relativieren wollen – wobei Traditionen und Kultur von autoritären Regierungen gerne so definiert werden, wie es ihnen gerade passt: „Wie genau lautet eigentlich die gesellschaftliche oder religiöse Tradition, die die Unterdrückung des Volks durch seine Regierung fördert und verteidigt?“, fragte der bis August amtierende UN-Hochkommissar für Menschenrechte Seid Ra‘ad al-Hussein einmal rhetorisch. Gerade jene Staaten, deren Vertreter heute verbal besonders entschieden gegen die Menschenrechte zu Felde ziehen, sind oft kaum mehr als eine Fassade, die nur die politische Dominanz einer Gruppe über andere zu kaschieren versucht.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde noch im Schatten der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs von einer Kommission aus 18 Menschenrechtsexpertinnen und -experten verfasst. Zu den bekanntesten unter ihnen gehören die US-Amerikanerin Eleanor Roosevelt – verwitwete First Lady und in ihrer Heimat Vorkämpferin gegen die `Rassentrennung´ – sowie der französische Jurist René Cassin, der für seinen Beitrag zur Erklärung 1968 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde. Aber keineswegs alle Verfasser der Erklärung stammen aus dem Westen. So spielten mit dem Libanesen Charles Malik und dem Chinesen P.C. Chang auch zwei Kommissionsmitglieder eine gewichtige Rolle, die gänzlich andere kulturelle Hintergründe hatten. Mehr noch: Der Konfuzianist Chang setzte sich dafür ein, dass gerade keine bestimmte religiöse oder philosophische Tradition die Erklärung prägen sollte. Dem wirkte auch der aufkommende Kalte Krieg entgegen: In dieser Situation musste die Erklärung universell sein, um in Ost und West gleichermaßen akzeptiert zu werden.

Der Soziologe Hans Joas spricht daher auch von einem „geglückten Prozess der ‚Wertegeneralisierung‘“, zumal „der Westen“ – anders als gerne kolportiert – während der Abfassung der Erklärung kaum eine gemeinsame Agenda verfolgte. Allenfalls könnte man behaupten, die europäischen Staaten hätten nach zwei schrecklichen Weltkriegen mit der Grundlegung der Menschenrechte eine Konsequenz gezogen, die der Kontinent einer derart in Mitleidenschaft gezogenen Welt schuldig war. Unter den Ersten, die sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beriefen, waren im Übrigen Unabhängigkeitsbewegungen in den damals noch kolonisierten Staaten Afrikas und Asiens, die sich dezidiert gegen die westlichen Kolonialmächte wandten.

Der zerstrittene Westen

Dessen ungeachtet ist die Behauptung, der Westen habe dem Rest der Welt die Menschenrechte beschert, weiterhin erfolgreich. Das liegt auch daran, dass sie zwei Lager zufriedenstellt: °Da sind zum einen jene, die den Westen und seine Geschichte der Aufklärung künstlich überhöhen und auf diese Weise die traurige Geschichte der westlichen Menschenrechtsverbrechen – von der Folter über die Sklaverei bis zum Genozid – verbrämen wollen. °Und da sind zum anderen solche, die zumindest die Durchsetzung bestimmter Menschenrechte in ihrem Staat bekämpfen wollen und denen dafür jedes Argument recht ist. Unter Donald Trump fallen diese beiden Lager paradoxerweise zusammen. Das ist die dramatische Wendung, die seine Präsidentschaft der Weltgemeinschaft beschert hat – und die den Kampf für universelle Menschenrechte grundlegend verändert.

Eine Verwässerung und Relativierung der Menschenrechte in Folge des globalen Populismus beobachtet auch der deutsche Ex-Diplomat Joachim Rücker, 2015 Vorsitzender des UN-Menschenrechtsrats. Zwar habe es auch schon früher ähnliche Tendenzen gegeben, etwa wenn Islamisten behaupteten, die Scharia stehe über der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Inzwischen habe sich die Relativierung aber zum festen Teil politischer Symbolik verfestigt, auch weil sie teilweise aus dem Westen kommt. Wenn dessen Vertreter mit Autokraten oder Diktatoren zusammentreffen, stehen Menschenrechte oft weder offiziell noch inoffiziell auf der Agenda. Im Westen ist zudem das Bewusstsein geschwunden, bei allen inhaltlichen Differenzen gemeinsame Ideale zu teilen oder gemeinsame Ziele zu verfolgen. Der Austritt der USA aus dem UN-Menschenrechtsrat ist dafür mehr als nur ein Symptom. Ein Ausbau oder auch nur eine Bestätigung dieser Rechte wie im Globalen Migrationspakt vorgesehen, scheint inzwischen global kaum noch mehrheitsfähig zu sein. Zudem fehlen schon rein praktisch auf der Arbeitsebene jene Kapazitäten, die die USA bisher in viele Menschenrechtsfragen investiert haben und über die nicht einmal Deutschland verfügt, ganz zu schweigen von der EU, die in Sachen Menschenrechte zunehmend zerstritten ist. Auch werden Verhandlungen, in denen die USA blockieren, ohne sie nicht unbedingt leichter, wie das Beispiel des UN-Abkommens über Transnationale Konzerne und Menschenrechte zeigt (hier mauert Berlin). Selbst regelmäßige Kritiker der USA wie Human Rights Watch vermissen inzwischen das Einstehen Washingtons für die globale Zivilgesellschaft zu einem Zeitpunkt, an dem diese weltweit unter Druck steht.

Die Kampagne gegen den Globalen Migrationspakt

Allerdings ist die Kritik der Trump-Administration gerade am Menschenrechtsrat [teilweise] berechtigt. In ihm sitzen derzeit auch notorische Menschenrechtsverletzer wie °Bahrain, °Bangladesch, °Kamerun, °Eritrea, °die Philippinen und °Somalia. Washingtons Kritik wird daher von vielen Staaten, darunter Deutschland, und Menschenrechtsgruppen gleichermaßen geteilt. Bemängelt wird neben der Besetzung der 47 Sitze auch ein ständiger Tagesordnungspunkt, der allein Israels Menschenrechtsverletzungen vorbehalten ist. So etwas gibt es für kein anderes Land, weder für °Syrien noch für den °Jemen oder den °Südsudan. Daher gilt der „Agenda Item 7“ seinen Kritikern als reines Propagandainstrument.

Und doch gibt es zu einem (reformierten) Menschenrechtsrat keine Alternative, wenn die Welt gemeinsam – und nicht in Fraktionen – über Menschenrechte im Gespräch bleiben will. Für die Besetzung des Menschenrechtsrats mit fragwürdigen Staatenvertretern etwa gibt es eine bereits erprobte Lösung: Immer dann, wenn Regionalgruppen in der Vergangenheit mehr Kandidaten vorschlugen, als sie Sitze haben, wurden die progressiveren Nationen gewählt. Doch es kostet Mühe, Diplomaten zu solchen Verfahrensänderungen zu bewegen, und es erfordert das grundlegende Interesse, den Multilateralismus und mit ihm die Universalität der Menschenrechte zu erhalten. Weiterhin bräuchte es Ressourcen, die den ohnehin schwach ausgestatteten Menschenrechts-Institutionen aber zunehmend entzogen werden.

Denn von den drei Grundpfeilern der UNO – neben den Menschenrechten sind dies Entwicklung sowie Frieden und Sicherheit – ist keiner mit so wenig Ressourcen ausgestattet wie die Menschenrechte. Das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte erhielt im Jahr 2016 reguläre Zuweisungen aus dem UN-Haushalt über 100 Mio. US-Dollar, dazu kamen freiwillige Zuschüsse in Höhe von knapp 130 Mio. Dollar. Fast zwei Drittel der Zuwendungen sind zweckgebunden. Die US-Regierung hat bereits angekündigt, die von ihr jährlich gezahlten 35 Mio. Dollar ab 2019 zu streichen. Ein Siebtel des Gesamtbudgets des UN-Hochkommissars für Menschenrechte fällt damit weg und muss von neuen Gebern finanziert werden. Dabei handelt es sich für die USA – die 2016 8,8 Mrd. Dollar an die UN überwiesen haben – um eine vernachlässigbar kleine Summe. Doch Washington geht es offenkundig ums Prinzip – um die Schwächung einer unliebsamen Institution.

Diese Schwächung wäre selbst dann fatal, wenn es sich bei den USA um einen Einzelfall in der Weltgemeinschaft handeln würde. Doch das ist nicht der Fall, wie die eskalierende Diskussion um den Globalen Migrationspakt zeigt. Dabei handelt es sich um ein 34seitiges Dokument, das unter Federführung der erst seit Kurzem zur UNO gehörenden Internationalen Organisation für Migration (IOM) entstand. Grundlage des Dokuments ist ein Beschluss, den die Staats- und Regierungschefs 2016 bei der UN-Vollversammlung in New York trafen. In ihrer Erklärung heißt es, es brauche ein Abkommen, das unter anderem „Sicherheit, Würde, Menschenrechte und andere grundlegende Freiheiten aller Migranten, unabhängig von ihrem rechtlichen Status“ schützt. Die finale Entwurfsfassung beginnt mit der Feststellung, dieser Vertrag fuße auf der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. In gewisser Weise konkretisiert der Migrationspakt diese grundlegenden Dokumente.

Doch nun haben neben Australien und den USA auch Österreich, Ungarn und weitere osteuropäische Staaten angekündigt, den Migrationspakt nicht zu unterzeichnen. In anderen Ländern wie der Schweiz oder Polen wurde darüber zuletzt noch eine kontroverse Debatte geführt. Das zeigt, unter welchem Druck die Idee der universellen Menschenrechte mittlerweile steht. Besonders erschreckend ist, dass dieser Druck zumindest in Europa maßgeblich aus einer Propagandakampagne der rechtsextremen Identitären Bewegung resultiert. Sie schwadroniert über den „Untergang der europäischen Völker“, verbreitet Angst vor angeblichen Umsiedlungsprogrammen und verwendet selbst den Nazi-Begriff der „Umvolkung“. Ihr Einfluss ist inzwischen so groß, dass ihre Umdefinition des Paktes bis weit in bürgerliche Kreise hinein Anklang findet.

Dabei ist – anders als von rechts behauptet wird – in keinem der 23 Ziele des Migrationspakts von einem Recht auf Migration, einer angeblichen globalen Niederlassungsfreiheit oder Ähnlichem die Rede. Doch um solche Fakten geht es den Gegnern des Paktes auch gar nicht. Sie stört im Kern, dass Menschenrechte auch für Migranten gelten, eben universell sind. Sind sie mit ihrer Attacke erfolgreich, drohen demnächst wohl auch die Menschenrechte anderer Gruppen in Frage gestellt zu werden.

Auf erschreckende Weise ähnelt die Strategie der Identitären und der Trump-Regierung derjenigen, die China im Bereich der Menschenrechte schon seit geraumer Zeit erfolgreich verfolgt. Bei der jüngsten Überprüfung der Menschenrechtslage in der Volksrepublik, die der UN-Menschenrechtsrat Anfang November wahrnahm, präsentierte Chinas Vize-Außenminister Le Yucheng den Diplomaten eine wahre Wunderwelt. Glaubt man Le, dann könnten sich Menschenrechtler keinen schöneren Staat wünschen als China. Denn dort gelten wirtschaftliche und soziale Menschenrechte, wie die Staatsführung es ausdrückt:

Jeder habe das Recht auf Entwicklung und Wohlstand. Selbst das Internet sei ein freier Kommunikationsraum, sofern man nicht gegen chinesische Gesetze verstoße, so Le. Wer als Kritiker verhaftet wird, ist dieser Lesart zufolge nicht etwa ein Menschenrechtler, sondern ein Terrorist. Und dass uigurische Muslime in der Provinz Xinjiang in Umerziehungslager gesteckt werden, sei keine religiöse Verfolgung, sondern soziale Hilfe für eine bessere Zukunft. Zweieinhalb Stunden lang präsentierten Le und seine Diplomaten ein bemerkenswert geschlossenes Weltbild, das aber dann zersplittert, wenn man den Maßstab der Universalität von Menschenrechten anlegt. Denn dann wären Menschenrechte auch für jeden Chinesen qua Geburt verbrieft. Doch in der Volksrepublik werden sie derzeit vom Staat verliehen – und auch wieder entzogen.

Chinas Machtanspruch

Inzwischen stößt diese autoritäre Version von Menschenrechten auch außerhalb Chinas auf Zustimmung. Im UN-Menschenrechtsrat beglückwünschten Vertreter afrikanischer, südamerikanischer und asiatischer Staaten Peking ganz offen zu seinen Menschenrechtsstandards. Nicht wenige dankten gleichzeitig für die großzügige Entwicklungshilfe, die aus China in ihre Länder überwiesen wird. Dieser massive Zuspruch machte es Le Yucheng leicht, die wenigen offenen Kritiker wie Deutschland, Frankreich, Kanada, die USA und Australien als „einige wenige Staaten“ abzukanzeln, die kein Interesse an einem „konstruktiven Dialog“ hätten. Daher wird es künftig an Nachahmern Chinas nicht mangeln, zumal, wenn diese sich in der Mehrheit fühlen dürfen. Mit den Menschenrechten, wie sie vor 70 Jahren von Eleanor Roosevelt verlesen wurden, hat diese Entwicklung indes nichts mehr gemein.

Und so lässt sich derzeit nicht sagen, ob die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte auch noch ihren 80. Geburtstag erleben wird. China drängt innerhalb der UNO nach oben, will Führungsmacht werden – und die Welt nach seinem Vorbild gestalten. Der Abgang der USA als Führungsmacht und die Spaltung Europas in Menschenrechtsfragen machen es China leicht. Das verdeutlichte auch eine programmatische Rede, die Präsident Xi Jinping Anfang Januar 2017 in Genf hielt. Vom „Time Magazine“ zum „mächtigsten Anführer seit Mao“ gekürt und von der eigenen Partei mit nahezu unbegrenztem Mandat ausgestattet, wurde Xi in Gegenwart von UN-Generalsekretär António Guterres und anderen hochrangigen Diplomaten grundsätzlich: Die Menschheit sehne sich nach einer strahlenden Zukunft, aber es sei sehr unsicher, was kommen werde, warnte der Präsident. Er rief zum Aufbau einer gemeinsamen Welt auf, einer Welt mit Frieden, Sicherheit und Wohlstand für alle. Die Forderung nach Freiheit für alle kam ihm indes nicht über die Lippen. „China hält unverändert an seinem Einsatz für den Multilateralismus fest“, versprach er stattdessen. „China wird das internationale System mit den Vereinten Nationen als Zentrum vehement aufrechterhalten, mit den Grundregeln internationaler Beziehungen, wie sie in der UN-Charta verankert sind, mit der Autorität und Statur der Vereinten Nationen und ihrer Kernrolle in internationalen Angelegenheiten.“ Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erwähnte Xi hingegen nicht. Zwar soll ein neuer „China-UN-Fonds für Frieden und Entwicklung“ die klammen UN-Agenturen in Genf mit Geld versorgen. Aber eben nur die im Bereich Frieden und Entwicklung. Vom dritten Pfeiler der UNO, den Menschenrechten, war bei Chinas starkem Mann keine Rede.

Druck auf humanitäre NGOs

Bei all diesen Ankündigungen ging fast unter, dass Xi in der gleichen Rede die „souveräne Gleichheit der Staaten“ als Grundlage der zwischenstaatlichen Beziehungen beschwor. Und doch bildet diese Formel einen Kern chinesischer Weltpolitik. Vorrang der staatlichen Souveränität heißt für Peking die Nichteinmischung in nationale Angelegenheiten, nicht zuletzt in chinesische. Bei allem vor der UNO zur Schau getragenen Selbstbewusstsein mutet es fast skurril an, mit welchem Aufwand China alles daransetzt, eine scheinbar weiße Weste in Menschenrechtsfragen nachzuweisen – im Zweifel ohne Rücksicht auf Verluste. Das trifft besonders die Vertreter chinesischer Minderheiten. So wurde der Menschenrechtler Dolkun Isa – der sich für die Rechte der Uiguren einsetzt und für die Unabhängigkeit der ihm zufolge chinesisch besetzten Region eintritt – im April 2017 von UN-Sicherheitsbeamten vom Gelände der UNO in New York geführt. Dabei war Isa ein offiziell anerkannter Repräsentant beim Forum für indigene Angelegenheiten, einem UN-Gremium, das sich gerade um die Rechte der völkerrechtlich nicht als Staatsvolk anerkannten Minderheiten kümmert. Warum Isa abgeführt wurde, hat er nie erfahren, die New Yorker UN-Zentrale schweigt zu dem Vorfall. Doch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass China seinen Einfluss geltend gemacht hat, um dem ungeliebten Aktivisten kein Forum zu bieten.

Normalerweise beseitigt China solche Probleme still und heimlich im Vorfeld. So schickt Peking vor Treffen des Menschenrechtsrats und anderer menschenrechtsrelevanter Gremien Listen an die UN-Verwaltung, auf denen Kritiker als „Sicherheitsrisiko“ bezeichnet werden. In den entsprechenden Schreiben wird zudem gefordert, die betreffenden Menschenrechtler nicht zu akkreditieren. Kein anderes Land ist in dieser Hinsicht so gründlich wie China. Einer Schätzung von Human Rights Watch zufolge sollen 95 Prozent solcher Anfragen aus der Volksrepublik stammen. Auch im UN-Wirtschafts- und Sozialrat, der für die Akkreditierung anerkannter Nichtregierungsorganisationen zuständig ist, soll China seine Position im Akkreditierungskomitee dazu genutzt haben, die Anerkennung von Menschenrechtsgruppen zu verhindern. Organisationen, die beispielsweise die Ein-China-Politik Pekings nicht teilen oder das Unabhängigkeitsrecht Tibets verteidigen, werden im Rat nicht anerkannt. Eine legale Grundlage dafür gibt es zwar nicht, denn die UN-Regeln sehen ausschließlich formale Kriterien für die Anerkennung vor, keine inhaltlichen. Doch China hat auch in der für den Wirtschafts- und Sozialrat zuständigen Verwaltung gehörigen Einfluss. Schließlich heißt ihr Leiter Liu Zhemin. Der heutige UN-Untergeneralsekretär für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten ist Le Yuchengs Vorgänger als chinesischer Vizeaußenminister.

Wer es unter diesen Bedingungen schafft, trotzdem eine Akkreditierung bei der UNO zu erhalten, wird nach Angaben chinesischer Bürgerrechtler regelmäßig an der Ausreise gehindert. Selten endet das so tragisch wie bei der Menschenrechtlerin Cao Shunli, die am 14. September 2013 auf dem Weg zum UN-Menschenrechtsrat in Genf am Flughafen Peking verhaftet wurde. Ihren Anwälten zufolge wurde sie schwer misshandelt, und die Behörden verweigerten ihr die nötige medizinische Versorgung. Cao fiel ins Koma und starb sechs Monate später. Der Vorfall wurde nie vollends aufgeklärt.

Meist jedoch ziehen die Behörden einfach die Pässe derjenigen ein, die zu einer UN-Veranstaltung reisen wollen. Und wer aufs UN-Gelände gelangt, muss sich darauf gefasst machen, dort im Auftrag chinesischer Behörden permanent gefilmt oder fotografiert zu werden – zur Einschüchterung. Auch ausländische Diplomaten bedenkt Peking mit Listen all derer, mit denen Treffen „vermieden“ werden sollen. Und schließlich drohen den Menschenrechtlern Konsequenzen bei der Wiedereinreise in die Volksrepublik: „Manchmal habe ich Angst, was passieren wird, wenn ich zurückgehe“, sagt ein Aktivist. „Die Chancen stehen 50:50, dass ich Probleme habe, wenn ich zurückreise.“ Solche Berichte lassen Schlimmes befürchten, sollte China tatsächlich einmal eine Führungsrolle bei der UNO übernehmen.

Die Mühe, die sich nicht nur China, sondern alle Gegner der universellen Menschenrechte machen, verweist aber auch auf einen Erfolg: Es zeigt, wie mächtig die angeblich doch so zahnlosen, in der Allgemeinen Erklärung garantierten Menschenrechte sind. Wären sie es nicht, würde sich niemand dafür interessieren, was in den Sitzungen des UN-Menschenrechtsrats diskutiert wird. Niemand würde sich darum kümmern, wie der eigene Staat von anderen beurteilt wird und für welche Menschenrechtsverletzungen unabhängige Beobachter eingesetzt werden. Wahrheiten zu dokumentieren und laut auszusprechen gehört daher vielleicht zu den schärfsten „Waffen“, die man in Zeiten von Fake News und Lügenkampagnen einsetzen kann. Auch 70 Jahre nach ihrer Niederschrift bleiben die universellen Menschenrechte somit ein Referenzpunkt für das, was gilt und gelten sollte. Sie machen deutlich, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

*Marc Engelhardt: 70 Jahre Menschenrechte: Universalismus unter Beschuss. [Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/‘18]

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