Johannes Dieterich* nimmt im Leitungsartikel einer überregionalen Tageszeitung, den wir im Folgenden zur Diskussion stellen, zum aktuellen Meinungsstreit in Europa über die Aufnahme von Zufluchtsuchenden Stellung:
„Südlich des Mittelmeers nimmt man Flüchtlinge einfach auf.
Und Migrationsursachen würde man anders beseitigen.“ – Johannes Dieterich
JOHANNESBURG, 28.06.2018: Europa demontiert sich, und Afrika schaut zu. Während vor dem Brüsseler Gipfel zur Migrationskrise nördlich des Mittelmeers gepokert und geschrien wird, bleibt es südlich des Gewässers auffallend ruhig – obwohl die „Krise“ dort ihren Ursprung hat. Afrikaner schauen dem europäischen Theater zunehmend befremdet zu: Ein wenig beneidet man die Nachbarn im Norden, weil sie keine schlimmeren Probleme haben.
Voraussichtlich werden in diesem Jahr 80 000 afrikanische Flüchtlinge, falls sie nicht ertrinken, übers Mittelmeer nach Europa kommen: Dagegen muss der kleine ostafrikanische Staat Uganda mit einer Million Flüchtlingen aus dem Sudan fertig werden. Von den weltweit 66 Millionen Heimatvertriebenen haben 86 Prozent im Süden des Globus statt im wohlhabenden Norden Zuflucht gefunden: Dennoch jammerst südlich des Äquators kaum einer über die „Last“.
Für Afrikaner ist es selbstverständlich, Flüchtlingen aufzunehmen. In Südafrika, wo bereits weit über zehn Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge oder Migranten sind, denkt keiner über Abschottung nach. Zählt man auch weiße Südafrikaner als Migranten (nichts anderes sind sie ja), stellt sich das Verhältnis noch krasser dar:
In Europa scheinen viele vergessen zu haben, dass bis vor wenigen Jahrzehnten noch die eigenen Landsleute den Hauptteil des weltweiten Migrantenstroms ausgemacht haben.
Dass Afrikas Regierungschefs derzeit so ruhig sind, hat noch andere Gründe: Sie sind gar nicht so unglücklich darüber, dass Teile ihrer Bevölkerung das Weite suchen. Das reduziert den Druck auf den Arbeitsmarkt, dämpft die Unzufriedenheit und bringt willkommene Devisen ein – Staaten wie Eritrea oder Somalia würden ohne die Remissionen gar nicht überleben können.
In dieser Wertschätzung der Migration sind Afrikas Staatschefs aber ziemlich allein: Wenn die Bevölkerung wählen könnte, ob sie sich lieber zu Hause oder – unter Einsatz ihres Lebens – auswärts verdingen sollte, würde sie zweifellos die Heimat vorziehen. Entscheidend ist deshalb, an welche Afrikaner sich die europäischen Regierungen wenden, wenn sie die beste Strategie zur Eindämmung des Migrationsdrucks in Erfahrung bringen wollen – falls sie auf dem Nachbarkontinent überhaupt jemanden fragen würden.
Die jüngste Initiative von Kanzlerin Angela Merkel, den afrikanischen „Pufferstaaten“ wie einst der Türkei Geld zukommen zu lassen, falls sie den Migrationsstrom drosseln helfen, geht in die falsche Richtung. Den Regierungen undemokratischer oder gescheiterter Staaten wie Libyen, Ägypten, dem Sudan oder Algerien Geld zukommen zu lassen, damit sie Menschen aus anderen Staaten stoppen, internieren und wieder zurückschicken, ist ein an Kurzsichtigkeit und Zynismus kaum noch zu überbietender Vorschlag: Er belohnt die menschrechtswidrigen Praktiken von Unrechtssystemen und wird Nordafrika zu einer explosiven Maginot-Linie destabilisieren.
Würden Europas Regierungschefs dagegen Vertreter der afrikanischen Bevölkerung – Gewerkschafter, Krankenschwestern, Lehrer oder Bauern – fragen, erhielten sie ganz andere Antworten. Diese sind nämlich interessiert daran, ihre Brüder und Schwestern im Land zu halten. Schließlich machen sich vor allem die Gewieften und Unternehmungslustigen auf den Weg – genau jene also, die man zu Hause dringend braucht.
Seit dem verheerenden Kolonialismus hat Afrika derzeit die besten Chancen, aus seinem von europäischen Migranten verursachten Alptraum zu erwachen: Technologien wie der Mobilfunk, das Internet und das chinesische Engagement bei der Verbesserung der afrikanischen Infrastruktur haben neue Möglichkeiten eröffnet.
Das wusste man zumindest bis vor kurzem auch in Berlin: Dort war zum Hamburger G20-Gipfel etwa vom „Compact with Africa“ die Rede, mit dem man ausgesuchten afrikanischen Volkswirtschaften unter die Arme greifen wollte. Ein Jahr später ist von den Vorsätzen nichts umgesetzt, klagen Wirtschaftsvertreter: „Das macht uns wütend“, [moniert] etwa Stefan Liebing, der Vorsitzende des Afrika-Vereins.
Dabei fordert der Lobbyist lediglich Investitionsgarantien der Bundesregierung für mittelständische Firmen. Alles andere würden sie dann selber auf die Beine stellen. Andere verweisen auf die europäische Expertise im Bereich der erneuerbaren Energien, die – wenn sie erschwinglich wären – in Afrika kleine Wunder bewirken könnten.
Der Investment-Guru George Soros ist überzeugt davon, dass viele afrikanische Volkswirtschaften mit einem jährlich 30 Milliarden Euro umfassenden „Marshallplan“ richtig in Schwung gebracht werden könnten. Wie viel den Europäern die langfristige Lösung der Migrationskrise Wert ist, bleibt ihnen natürlich selbst überlassen. Solange sie wissen, dass jeder in die Festung Europa investierte Euro unproduktiv, die eigene Freiheit behindernd und auf lange Sicht nutzlos ist – während dieselbe Münze, sinnvoll in Afrika investiert, jedem zugutekäme.
*Johannes Dieterich: „Afrika wundert sich“, Frankfurter Rundschau, 28.06.2018
Das Problem ist, dass Menschen wie Angela Merkel und viele andere Menschen in entsprechenden Machtpositionen für solche vernünftigen und im gesunden Menschenverstand gründenden Argumenten nicht zugänglich sind. Die herrschende Politik der „Alternativlosigkeit“ führt nirgendwo hin außer in den Erhalt des Status quo. Es ist „zum Mäusemelken“, würde meine Großmutter sagen.