Viele Staaten ziehen sich vom Internationalen Gerichtshof zurück, weil sie ihn fürchten. Deren Begründung, der ICC sei voreingenommen, ist – so Christian Bommarius* – schlicht falsch:
Im wichtigsten Prozess der Neuzeit, im NS-Hauptkriegsverbrecherprozess (1945/46) gegen Hermann Göring, Rudolf Heß und andere, hat der US-amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson eine der ältesten Fragen der Menschheit so formuliert: „Die Zivilisation fragt, ob das Recht so zaudernd und träge sei, dass es gegenüber so schweren Verbrechen, begangen von Verbrechern von so hohem Rang, völlig hilflos ist.“ Die Antwort, die die Staatenwelt darauf Jahrzehnte später gegeben hat, war die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) mit Sitz in Den Haag, vor dem sich seit dem Jahr 2002 Präsidenten und Militärs für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression verantworten müssen. 120 Staaten haben seinerzeit der Errichtung des Gerichts zugestimmt.
Unabhängigkeit ist seine Stärke
Anders als die früheren internationalen Strafgerichtshöfe zu Jugoslawien und Ruanda, die vom UN-Sicherheitsrat ins Leben gerufen worden waren, ist der ICC unabhängig. Das ist seine Stärke. Aus dieser Stärke resultiert auf den ersten Blick auch seine Schwäche: Nicht nur Iran, Israel und die meisten arabischen Staaten wehren sich bis heute dagegen, ihre Staatsangehörigen der Jurisdiktion in Den Haag zu überantworten, sondern auch China und die USA. Und soeben hat nun nach Südafrika, Burundi und Gambia auch Russland seinen Rückzug vom ICC verkündet.
Sie alle werfen dem Gericht Voreingenommenheit vor. Aber es ist gerade die unbestreitbare Unabhängigkeit des Gerichts, die die Potentaten dieser Staaten fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Im Völkerstrafrecht ist es nicht anders als im normalen Strafrecht auch: Die Verbrecher versuchen, sich der Strafverfolgung um jeden Preis zu entziehen. Der Vorwurf der Befangenheit des Richters ergibt sich für sie im einen wie im anderen Fall von selbst: Wäre der Richter unbefangen, hätte er die Anklage nicht zugelassen.
Die afrikanischen Staaten können ihren Vorwurf vermeintlich damit begründen, dass der Internationale Gerichtshof bisher Ermittlungen in neun Staaten eingeleitet hat, davon in acht afrikanischen. Jeder informierte Zeitgenosse weiß, dass viele der fürchterlichsten Menschenrechtsverletzungen seit Jahren in Afrika begangen werden (Kongo, Darfur, Uganda), die Konzentration der Ermittlungen also nicht Ausdruck rassistischer Voreingenommenheit ist, sondern Manifestation der verheerenden politischen Lage.
„An diesem Vorwurf der angeblichen Voreingenommenheit gegenüber Afrika stört mich am meisten, wie schnell wir den Worten und der Propaganda von ein paar wenigen mächtigen Individuen Aufmerksamkeit schenken, während Millionen anonymer Menschen, die unter ihren Verbrechen leiden, vergessen werden.“
Das hat kein weißer Richter mit rassistischer Gesinnung gesagt, sondern die Chefanklägerin des ICC, Fatou Bensouda, vormals Justizministerin in Gambia, dessen Diktator das Land im vergangenen Jahr zum islamischen Staat erklärt und schwerste Menschenrechtsverletzungen – Folter, außergerichtliche Hinrichtungen – zur Regierungspraxis gemacht hat und sich nunmehr der Rechtsprechung Den Haags entziehen will.
Manifestation der verheerenden politischen Lage
Allein schon die Besetzung des Gerichts verweist den Vorwurf westlicher Dominanz ins Reich der Fabeln. Außer der Chefanklägerin Bensouda aus Gambia stehen dem Gericht drei insoweit unverdächtige Frauen vor – die Präsidentin kommt aus Argentinien, die beiden Vizepräsidentinnen stammen aus Kenia und Japan. Der Vorwurf der Voreingenommenheit ist aber auch deshalb substanzlos, weil das Gericht die bisher verhandelten Fälle nicht etwa von sich aus an sich gezogen hat, vielmehr wurden sie ihm von afrikanischen Mitgliedsstaaten vorgelegt.
Auch die Begründung, mit der Russland seinen Rückzug zu erklären versucht, ist Propaganda. Der Internationale Gerichtshof, heißt es, sei erstens ineffektiv und zweitens ein Büttel des Westens. Was den ersten Vorwurf betrifft, so ist er nicht ganz falsch, aber die Vermutung liegt nahe, dass gerade die in den vergangenen Jahren eben doch gesteigerte Effektivität des Gerichts Wladimir Putin zum Rückzug motiviert. Er kündigte ihn wenige Tage nach der Mitteilung der ICC-Chefanklägerin an, die russische Besetzung der Halbinsel Krim und die Kämpfe in der Ostukraine seit 2014 deuteten auf einen bewaffneten internationalen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hin, den Russland gegen alle Evidenz bestreitet.
Nicht die fehlende Effizienz des ICC verursacht den Exodus der Mitgliedsstaaten, sondern im Gegenteil die Angst der Staatsverbrecher vor seiner Effizienz. Das haben leider die USA schneller als die meisten anderen Staaten begriffen. Der Assistent des Nürnberger Chefanklägers, Telford Taylor, hat Jahrzehnte später resigniert beteuert: „Wir haben es irgendwie nicht geschafft, die Lektionen zu lernen, die wir in Nürnberg lehren wollten, und genau dieses Versagen ist die Tragödie des heutigen Amerika.“ So ist es bis heute.
*Christian Bommarius, Leitartikel, Frankfurter Rundschau 22.11.2016.
>> Gastkommentar: Kofi Anan, 25.11.2016.
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