Dilek Güngör:
ICH BIN ÖZLEM
Verbrecher Verlag 2019, 160 Seiten
Lange, sehr lange hat Dilek Güngör erzählt, wo sie herkommt. Heute erzählt sie, wer sie ist – „Ich bin ich“:
Sich selbst erzählen. Ich erzähle mich. Ein seltsamer Satz ist das, als fehle darin ein Wort, als müsse es heißen, sich selbst etwas erzählen.
Der Satz ist richtig; ich kann Deutsch. Sehr gut sogar. „Obwohl Deutsch nicht einmal ihre Muttersprache ist“, sagte unsere Lehrerin und auch, dass sich die anderen Kinder ruhig eine Scheibe abschneiden sollten, wovon überhaupt?
Ich sah mich um. Ingo aus meiner Bankreihe zog eine Grimmasse, die Lehrerin aber lächelte und sagte, ich dürfte mir in der Pause etwas aus der Geschenkekiste aussuchen.
Bedeutete wohl etwas Gutes.
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Später sagten Leute: „Du sprichst aber gut Deutsch“. Das verstand ich auf Anhieb. Und verstand noch mehr, denn das `aber´ verriet sie. Die anerkennend gemeinte Verwunderung in ihrer Stimme. Sie hatten mir fehlerfreie deutsche Sätze nicht zugetraut – nicht mir persönlich nicht, sondern einem solchen Kind wie mir nicht, einem türkischen Kind. Man sagte damals `türkische Kinder´, `Türkenkinder´ oder `Gastarbeiterkinder´. Der Migrationshintergrund war noch nicht erfunden.
Man könnte meinen, dieses Extralob, dieses Herausgehobenwerden vor der Klasse mache Kinder stolz und stark. Es machte mich nicht stolz und stark. Es lehrte mich, dass meine Herkunft etwas war, was groß und klotzig in meinem Leben stand und immerzu erwähnt und erklärt werden musste. Es machte mich hellhörig für das `Aber´, das `Eigentlich´, das `Normalerweise´.
So hellhörig und begierig es aufzuspüren, dass ich es fortwährend hörte, dort, wo es gemeint und nicht gesagt wurde. Und auch dort, wo es nicht gemeint war. Mir wuchsen feine, unsichtbare Antennen aus dem Kopf, ihr Surren hörte nur ich. Je mehr ich dem Surren nachspürte und horchte, desto hartnäckiger setzen sich die `Abers´ und die `Eigentlichs´ in meinen Gedanken ab. Und dann begann ich, selbst so zu sprechen. Mich so zu denken, mich so zu erzählen: „Ich heiße Dilek.“
„Dilek?“
„Ja, Di-lek“
Pause. In dieser Pause knisterte es schon leise zwischen meinen Antennen, ich spüre, wie etwas aus meinem Gegenüber herauswollte. Ein `Aber´, eine Frage, die nicht gestellt wurde. Und dann doch gestellt wurde.
„Das ist aber kein Deutscher Name, oder?“
Ich wählte den artigen Weg.
„Das ist ein türkischer Name. Meine Eltern kommen aus der Türkei.“
Das war ein Fehler, denn nun waren allen Fragen Tür und Tor geöffnet:
„Sind deine Eltern beide aus der Türkei?“
„Bist du hier geboren?“
„Hast du einen deutschen Pass?“
„Hast du auch den türkischen?“
„Haben deine Eltern auch die deutsche Staatsbürgerschaft?“
„Kannst du Türkisch?“
„Bist du oft in der Türkei?“
„Seid ihr Kurden?“
„In welcher Sprache träumst du?“
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Ich gab Auskunft, holte alles hervor, was ich hatte, und es schien immer dasselbe zu sein. Dieselben Antworten auf dieselben Fragen. Erzählte die ganze Geschichte. Nahm vorweg und nahm es hin, dass man mich alles fragen durfte, ja musste, wenn man mich zum ersten Mal traf.
Keine Frage durfte offen bleiben und alle mussten sie richtig beantwortet werden, denn wie und worüber sonst hätte man mit mir sprechen sollen, wenn nicht über meinen Namen, meine Haare, die Migration meiner Eltern, ach ja, und über die Integration, zu der es ja Gott sei es gedankt, immerzu etwas zu sagen gab?
Erzähle mich so, wie man mich erzählt haben wollte:
„Meine Eltern sind aus der Türkei, aber jetzt wohnen sie schon länger in Deutschland, als sie je in der Türkei gelebt haben. Ich bin hier geboren. Als ich klein war, haben wir zuhause Türkisch gesprochen; jetzt sprechen wir mal so und mal so. Meine Eltern kommen eigentlich aus der Näher von Gaziantep, das ist im Südosten der Türkei. Dort sind sie in den Siebzigerjahren weggegangen. Meine Onkel und Tanten und Cousinen sind noch fast alle da. Wir fahren aber nicht merh so oft hin. Ich hatte ursprünglich nur einen türkischen Pass, jetzt habe ich auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Ich weiß nicht, in welcher Sprache ich träume. Ich glaube, ich träume einfach nur Geschichten.“
Bis.
Ich weiß nicht, bis was. Es tat einen Ruck oder tat es einen Knall? Waren die Antennen explodiert? Keine Ahnung. Irgendwann war es einfach genug.
Genug mit der Erklärerei und der Geschwätzigkeit. Ich hatte keine Lust mehr, mich so zu erzählen, wie andere es erwarteten. Vielleicht braucht es Lebenserfahrung oder bloß Starrsinn, um damit aufzuhören. Ich glaube, es war die Einsicht, dass mit Alles-richtig-machen und Brav-die-richtige-Antwort-geben auch nicht zu holen ist. Hätte ich früher draufkommen können, aber das Surren hat mich abgelenkt.
Jetzt sind die Rollen vertauscht.
Ich erzähle mich. Ich erzähle mich mir selbst. Ich erzähle mich neu. Ich erzähle mich anders. Ich erzähle mich in einem Satz. Ich bin Dilek.
Dilek Güngör, geboren 1972 in Schwäbisch Gmünd, ist Journalistin und Autorin. Sie war Kolumnistin der Berliner Zeitung, heute ist sie stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrft „Kulturaustausch“.
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