– Auszug aus einem Interview mit Gregor Gysi –
Bei der rot-rot-grünen Sondierung [nach den Wahlen in Thüringen 2014] ging es wieder einmal drum, ob man die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet. Warum tut man sich in der Linken so schwer damit?
Die meisten verstehen darunter, dass sie in der DDR, selbst wenn sie als Ärztin oder Pfarrer gearbeitet haben, letztlich nur dem Unrecht gedient haben sollen. Das wollen sie als Bilanz ihres Lebens nicht stehen lassen. Die DDR war eine Diktatur, sie war kein Rechtsstaat, und es gab in ihr staatlich angeordnetes Unrecht, auch grobes Unrecht. Ich möchte nur nicht, dass Menschen damit verbinden sollen, dass sie nichts anderem gedient hätten als dem Unrecht.
Warum haben Sie dann hinterher doch zugestimmt, dass die Thüringer Genossen das Papier mit dem Begriff „Unrechtsstaat“ unterschreiben?
Die andere Seite hat darauf bestanden, und es war ein insgesamt ausgewogenes Papier. In der Politik besteht doch die Kunst nicht in hundertprozentiger Übereinstimmung, sondern im Kompromiss. In Thüringen wurden schon jetzt vernünftige Dinge vereinbart, zum Beispiel beim Verfassungsschutz oder bei der Förderung von Gemeinschaftsschulen. Allerdings: Wenn Bodo Ramelow im Landtag gewählt wird, fängt die große Herausforderung erst an. Wenn die Frankfurter Rundschau in zwei Jahren berechtigt schreiben könnte, in Thüringen tue sich nichts anderes als in dem sozialdemokratisch regierten Land S oder Y, dann haben wir nicht erreicht, was wir hätten erreichen müssen.
Wie lange wird die DDR-Aufarbeitung bei solchen Gesprächen noch eine Rolle spielen müssen?
Wir sind ja freiwillig zur Adresse für Geschichte geworden, und dann muss man da durch. Wenn es erstmalig um Rot-Rot-Grün im Bund geht, wird das wieder so sein. Genossen aus dem Westen wie Klaus Ernst sehen das anders, weil sie ja nichts damit zu tun haben, aber mit in Haftung genommen werden. Auch das kann ich verstehen. Die Dinge erschienen einfacher, als wenn man das Leben in der DDR selbst geführt hat.
Also kein Ende?
Die Geschichte der linken in Deutschland und in Europa ist widersprüchlich: Auf der einen Seite verdanken wir ihr – und auch den Kirchen – das Beharren auf der sozialen Frage. Auf der anderen Seite sind mit der Geschichte der Linken furchtbare Verbrechen verbunden. Ein schwerer Fehler wäre es, zu sagen: Auch, Geschichte brauchen wir jetzt nicht mehr zu erörtern. Sicher gibt es Jüngere, die das nicht verstehen. Wenn ich meiner 18-jährigen Tochter von der Mauer erzähle, denkt die, ich rede übers Mittelalter.
Wie viel DDR steckt in der Generation Ihrer Tochter oder der etwas Älteren?
Bei der ersten jungen Generation nach der Wende habe ich gestaunt, wie DDRisch sie war. Bei meiner Tochter ist das nicht mehr so. Sie kann in Berlin gar nicht mehr unterscheiden, was ml Osten und was Westen. Aber die Ost-West-Frage wir bleiben, solange man nicht die gleichen Rentenpunkte bekommt oder für gleiche Arbeit im Osten weniger verdient. Ich will endlich mal kämpfen können für gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, und zwar unabhängig von Ost und West. Zum Beispiel für Frauen. Ich habe mal einen österreichischen Gastwirt klagen hören, dass er kaum noch eine Kellnerin findet. Das liegt daran, dass die Österreicher jetzt in der Pflege anständig bezahlen.
Wie viel DDR steckt in Gregor Gysi?
Meine Biografie war eine privilegierte Ausnahme, weil meine Eltern Besuch hatten aus Südafrika, aus den USA, aus Großbritannien, Belgien oder Frankreich. Ich erinnere mich an einen Unternehmer, der Mitglied der französischen Kommunistischen Partei war. Ich habe ihn mal gefragt, was er denn mache, wenn die sozialistische Revolution in Frankreich gesiegt habe. Er sagte: Dann gehe ich sofort in die Schweiz und kämpfe weiter. Das war eine Art von Humor, mit der kaum jemand aufwachsen konnte in der DDR.
Aber Teil des Systems waren Sie auch.
Sie dürfen nicht vergessen, dass ich einen Nischenberuf hatte. In der ganzen DDR gab es 600 Rechtsanwälte, das hat man ja heute manchmal in einer Straße. Wir mussten dem Gericht widersprechen, dem Staatsanwalt oder dem Bürgermeister, die ja im Staatssozialismus eigentlich alle immer Recht haben sollten. Wir waren am Rande der Gesellschaft, fühlten uns aber nicht unwohl. Wir nutzten bestimmte Recht und Privilegien und verdienten außerdem nicht schlecht.
Das klingt ja paradiesisch.
Von wegen. Ich war ansonsten eingesperrt wie alle anderen, bis zu meinem 40. Lebensjahr. Zum ersten Ml in den Westen reisen durfte ich 1988. Schon 1987 hatte das DDR-Kulturinstitut in Paris einen Vortrag von mir beantragt zum „Grad der Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR“ – na ja, Spitzen-Thema! -, aber das wurde abgelehnt. Im Januar 1988 haben sie es dann doch genehmigt. Und weil ich dann von Paris zurückgekommen war, konnte ich dienstlich nach Wien fahren, nach Neu-Delhi und London und sogar für einen Tag nach West-Berlin. Deshalb war beim Mauerfall der Druck bei mir nicht so groß wie bei den meisten anderen.
Wie war die Erfahrung im Westen?
Ich kam nach Paris und aus dem Staunen nicht heraus. Wie viele verschiedene Sorten von Autos es da gab! Und die Blumenläden, voll! Ich habe im Januar Geburtstag, da gab es bei uns nie Blumen. Die Käseläden: 300 Sorten! Icherinnere mich besonders an einen Teewagen-Laden. Da standen hundert verschiedenen Teewagen. Im Warenhaus am Alexanderplatz gab es mal einen! Das kam mir in Paris dann auch etwas überflüssig vor. Dann wollte ich einen Kaffee trinken. Einen Kaffee bekam ich ja auch in der DDR, ich dachte: Dafür muss ich doch keine Devisen ausgeben. Bis ich dann merkte: Ohne Devisen kriege ich hier keinen Kaffee. Alles, was in der DDR billig war, war im Westen teuer. Und alles, was in der DDR teuer war, war dort billig. Fernsehgeräte waren in der DDR teuer und dort billig. Aber eine U-Bahn-Fahrt oder einmal in den Louvre, und ich war pleite. Die DDR hat immer gesagt: Der Zugang zu Grundnahrungsmitteln, Bildung und Kultur muss subventioniert und extrem preiswert sein, aber Fernsehen, das war schon wieder Luxus und das Gerät durfte mehr kosten.
Nennen Sie doch mal einen Unterschied zwischen der DDR und dem Westen.
Die DDR war übersichtlich. Im Jahr 1990 habe ich dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker gesagt, er werde jetzt eine Vielzahl von Eingaben bekommen von ehemaligen DDR-Bürgern, die wollen, dass er die Dinge regelt. Er: Ich kann doch gar nichts regeln. Ich: Ja, das wissen Sie, aber das Wissen wir doch nicht. Bei uns hat man an den Staatsratsvorsitzenden geschrieben, das hatte mal Erfolg, mal nicht, dann war die Sache klar.
Also lernen vom Rechtssystem der DDR?
Natürlich nicht das Recht an sich. Die Allgemeinverständlichkeit der Sprache war aber ein echter Vorteil. Wir formulieren ja heute so, dass mein Berufszweig als Anwalt nicht untergeht. Das eine oder andere hätten wir schon übernehmen sollen.
Warum reagieren Sie so abwehrend, wenn es um Stasi-Kontakte geht? Und wie sehen Sie Ihre Chance, nicht wegen einer angeblichen Falschaussage dazu demnächst eine Anklage am Hals zu haben?
Ich gebe keine falschen eidesstattlichen Versicherungen ab, und deshalb wir das Verfahren gegen mich eingestellt werden. In der DDR gab es mehrere Polizeien: die Volkspolizei, die Transportpolizei, den Zoll – und dann die Untersuchungsabteilung der Staatssicherheit. Wenn du also jemanden verteidigt hast, der bei der Staatssicherheit saß, musstest du zu dieser Untersuchungsabteilung exakt den Kontakt halten, den u ansonsten zur Polizei oder zur Transportpolizei oder zum Zollunterhalten hast. Hinzu kommt, dass die DDR sich im Lauf der Zeit zwar verrechtlichte – es gab Freisprüche, Abweichungen von der Strafforderung der Staatsanwaltschaft und so weiter -, aber nicht, wenn es um politische Machtfragen oder vermeintliche politische Machtfragen ging. In diesem Fall hatte ich nur die Chance, Mandanten wie den Dissidenten Rudolf Bahro oder Robert Havemann zu helfen, indem ich politisch agierte. Deshalb hatte ich Kontakte zur Abteilung Staat und Recht des Zentralkomitees der SED.
Was hat das mit Stasi zu tun?
Wenn ich gleichzeitig der Staatssicherheit, die meine Mandanten bekämpft hat, Informationen geliefert hätte, dann hätte die Partei nicht mehr mit mir gesprochen. Sie war mächtiger und entschied, wen sie informierte, nicht ich. Und ehrlich gesagt bin ich etwas stolz: Bahro saß, und ich konnte denen eine Amnestie einreden. Die Schwierigkeit bestand darin, denen zu erklären, dass es in ihrem eigenen Interesse war. Das hat mit der Stasi nichts zu tun, und es hat eine inoffizielle Zusammenarbeit von mir mit der Stasi nie gegeben. Natürlich hat die Stasi erfahren, was ich mit den Verantwortlichen geredet habe. Aber es gibt keine Unterschrift von mir, nichts. Die Stasi hat eine „IM-Vorlauf“ angelegt. Da haben sie geprüft, ob ich aus ihrer Sicht „geeignet“ bin, da war ich nicht und der Vorgang wurde archiviert. Leider wurde der Anwerbeversuch nichterlaubt. Dann hätte ich mich nämlich entscheiden müssen. Entweder ich hatte Ja gesagt – heute sage ich natürlich, das hätte ich nicht -, dann wäre ich drin gewesen im Schlamassel. Oder ich hätte Nein gesagt und wäre draußen gewesen. Aber sie haben eben nicht gefragt und stattdessen eine „Operative Personenkontrolle“ gegen mich eröffnet. Wenn ich in der CDU wäre, in der SPD, in der FDP oder bei den Grünen – der Vorwurf wäre längst gestorben. Da erlebe ich durch die Journalistinnen und Journalisten – anders als durch die Gerichte –keine Gleichbehandlung. Und trotzdem ist es mir gelungen, mir eine Respekt zu erarbeiten, an den ich selbst 1990 nie und nimmer geglaubt hätte.
ZUR PERSON:
Gregor Gysi wurde am 16. Januar 1948 in Ost-Berlin geboren, wo er auch zur Schule ging. Parallel zum Abitur erwarb er den Lehrabschluss eines Facharbeiters für Rinderzucht. Er studierte Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität und arbeitete seit 1971 als einer der wenigen Rechtsanwälte in der DDR. 1976 promovierte er mit einer Arbeit unter em Titel „Zur Vervollkommnung des sozialistischen Rechtes im Rechtsverwirklichungsprozess“.
In der Politik fiel Gysi, der schon seit 1967 der SED angehörte, erstmals bei der Großkundgebung auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 auf. Dort forderte er eine Reform der DDR-Justiz.
Nach dem Mauerfall wurde Gysi schnell zum Berufspolitiker. Bereits am 9. Dezember 1989 übernahm er den Vorsitz der SED, die sich erst in „SED-PDS“, später dann in PDS umbenannte. Gysi war führend an der bis heute umstrittenen Entscheidung beteiligt, der Nachfolgepartei das Vermögen der SED weitgehend zu sichern. Dem Bundestag, wo er der Fraktion der Linkspartei vorsitzt, gehört der 66-Jährige mit einer Unterbrechung (222 bis 2005) seit 1990 an.
Im Interview fordert Gregor Gysi seine Partei auf, sich weiter der DDR-Geschichte zu stellen. Den Begriff „Unrechtsstaat“ lehnt er ab, akzeptiert aber seien Verwendung, wenn sie rot-rot-grüne Bündnisse ermöglicht. fr
Interview: Arnd Festerling und Stephan Hebel
Quelle: Frankfurter Rundschau (FR), MAGAZIN, 3. November 2014, Seite 18-19.
Kommentieren