Herta Däubler-Gmelin* nimmt Stellung zum Verfahren gegen Brasiliens Ex-Präsident Lula da Silva und äußert sich unmissverständlich kritisch über die Verfahrensweise:
Am 24. Januar 2018 soll das brasilianische Bundesgericht in Porto Alegre als Berufungsinstanz seine Entscheidung über die Verurteilung des ehemaligen Präsidenten Lula da Silva durch das Bundesstrafgericht in Curitiba bekannt geben. Dieses erstinstanzliche Gericht unter Leitung von Bundesrichter Sergio Moro hatte am 12.07.2017 Lula da Silva wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist in mehrfacher Weise wichtig: Einmal deshalb, weil die inhaltliche Richtigkeit und rechtsstaatliche Qualität des erstinstanzlichen Urteils in Rede steht.
Zum anderen wird von der Entscheidung des Berufungsgerichts abhängen, ob Lula bei den kommenden Präsidentschaftswahlen in Brasilien als Kandidat der Arbeitspartei PT antreten kann. Genau das will Brasiliens derzeit herrschende Machtelite im Verbund mit dem die Öffentlichkeit dominierenden Medienkonzern Globo mit allen Mitteln verhindern. Lulas Popularität wächst derzeit täglich, während die Glaubwürdigkeit der politischen Institutionen, aber auch der Gerichte Brasiliens wegen Korruptionsvorwürfen und den Maßnahmen gegen die Armen Brasiliens immer mehr schwindet.
In Brasilien befürchten viele, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts das erstinstanzliche Urteil bestätigen wird. Zur Begründung weisen sie auf das Trommelfeuer gegen Lula, seine Nachfolgerin Dilma Rousseff und die linken Parteien hin, das seit 2013 immer stärker und auch von hohen Vertretern der Gerichtsbarkeit befeuert wird. Lula und seine Partei, die PT, werden nahezu täglich als „korrupt“, als „Schurken“ und als „kriminelle Organisation“ verleumdet. Im Falle einer Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils könnte dessen unmittelbare Vollstreckung und damit die Inhaftierung Lulas angeordnet werden. Allerdings stehen Lula dann noch weitere Berufungsmöglichkeiten auf derselben Instanzebene sowie beim Obersten Bundesgerichtshof offen.
Gründe für diesen Kampf gegen seine Person und gegen linke Politik sind unter anderem die Nationalisierungspolitik und die Politik der Umverteilung, die Lula und Rousseff mit dem Ziel des sozialen Ausgleichs betrieben haben. Beides widerspricht offensichtlich den politischen und ökonomischen Interessen der reichen brasilianischen Oberschicht und ihrer Verbindung mit internationalen Konzernen.
Der sozial- und wirtschaftspolitische Rollback hat längst eingesetzt; auch das Impeachment vom 31. August 2016 gegen die frühere Präsidentin Dilma Rousseff folgt, Kennern Lateinamerikas zufolge, dem Muster der neuen „Form des Staatsstreichs“ (Aníbal Pérez-Liñán). Rousseffs Beschwerde gegen das Impeachment ist im Übrigen trotz seiner offensichtlich ungenügenden rechtlichen Fundierung vom zuständigen Obersten Gerichtshof Brasiliens schlichtweg liegen gelassen, nicht behandelt und schon gar nicht aufgehoben worden. Die Vermutung ist nicht unberechtigt, dass der Supreme Court die Beschwerde erst nach dem Ende der Amtszeit des unbestreitbar korrupten derzeitigen Präsidenten Michel Temer aufgreifen will, um sie dann in der Substanz für erledigt zu erklären.
Auch der Richter Sérgio Moro am erstinstanzlichen Bundesgericht in Curitiba, das für die Korruptionsfälle beim parastaatlichen Erdölkonzern Petrobrás zuständig ist, gibt seit langem Anlass zu der Vermutung, Teil dieser politischen Kampagne zu sein: Er ist in mehrfacher Weise öffentlich gegen Lula in Erscheinung getreten, was in einem Rechtsstaat ohne Zweifel zur Feststellung seiner Befangenheit führen müsste – nicht so in Brasilien: Ihm wurden immer wieder Persilscheine ausgestellt; was wenig verwundert, weil sich auch hohe Richter häufig mit öffentlichen Vorverurteilungen Lulas an der politischen Kampagne beteiligt haben.
Passt das alles noch in den Rahmen des Üblichen in der insgesamt durchaus problematischen brasilianischen Strafjustiz? Oder verletzt das nicht längst das rechtsstaatlich Hinnehmbare in besonderer Weise? Immer mehr Hinweise unterstreichen die Befürchtung, dass zumindest ein erheblicher Teil der brasilianischen Justiz sich als Arm der herrschenden Geld- und Machtelite Brasiliens begreift und unter missbräuchlicher Berufung auf richterliche Unabhängigkeit die auch in der Verfassung Brasiliens verankerten Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit opfert.
Leider kümmert sich trotz der Eingabe Lulas beim UN-Hochkommissar für Menschenrechte und dessen klarer Ablehnung von rechtsstaats- und menschenrechtswidrigen Praktiken der brasilianischen Justiz die internationale Gemeinschaft, auch die europäische und insbesondere die deutsche Öffentlichkeit, viel zu wenig um die beklagenswerten Veränderungen der brasilianischen Politik der letzten Zeit. Das mag zum Teil daran liegen, dass die brasilianische Justiz und die dortige Medienkampagne behaupten, es gehe auch bei den Verfahren gegen Lula nur um den berechtigten Kampf gegen Korruption.
Wäre dem so, dann würde Brasiliens Justiz jede Unterstützung ihres Vorgehens verdienen: Wirksame Korruptionsbekämpfung ist nötiger denn je. Die Korruption dort, das zeigen auch die Berichte von Transparency International, ist seit langem endemisch und ein Riesenproblem für Staat, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Korruption untergräbt zudem das Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Entscheidungen jeden Tag mehr. Zur Bekämpfung von Korruption in jeder Form sind wirksame Gesetze, repressive und präventive Instrumente und Verfahren erforderlich. Aufklärung und Nachweis von Korruption können schwierig sein, gerade wenn es um Einflussnahme auf politische Entscheidungen oder den Nachweis von Vorteilsannahme geht. Das gilt für die Korruptionsbekämpfung überall auf der Welt, auch in Brasilien. Deshalb ist bemerkenswert, dass während der Amtszeit von Lula als Staatspräsident sowohl Gesetze gegen Korruption verschärft, wie auch Institutionen zur Korruptionsbekämpfung gestärkt wurden.
Sind die gegen Lula angestrengten Korruptionsstrafverfahren nur die Anwendung dieser verschärften Gesetze? Vielleicht im von vielen Juristen als „normaler Wahnsinn Brasiliens“ bezeichneten Rahmen, der sich aus der in unseren Breiten unvorstellbaren Einmischung der Richterschaft in die Politik ergibt?
Wie schon angedeutet, sind Zweifel daran mehr als berechtigt. Zunächst deshalb, weil die aktuelle Korruptionsbekämpfung unter erheblicher politisch bedingter Schlagseite leidet: Die offen sichtbare Korruption etwa durch den jetzigen Staatspräsidenten Temer wie auch große Teile seiner – konservativen – Gefolgschaft in Abgeordnetenhaus und Senat scheint die Gerichte und die politische Machtelite Brasiliens nicht zu stören. Diese politisch skandalöse und der Glaubwürdigkeit der brasilianischen Gerichtsbarkeit abträgliche Einseitigkeit allein reicht allerdings für eine Kritik an der Gerichtsbarkeit noch nicht aus. Der Hinweis auf Einäugigkeit ist weder Entschuldigung für Korruption in anderen Bereichen, noch berechtigte Forderung nach Straflosigkeit dort.
Zusätzlich skandalös jedoch ist die rechtsstaatswidrige Vorgehensweise der Justiz in den Verfahren gegen Lula da Silva. Hier werden die unverzichtbaren rechtsstaatlichen Grundsätze, etwa der der Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit von Richtern, aber auch des fairen Verfahrens, ununterbrochen verletzt. Schwerwiegende Verfahrensverstöße im Ermittlungs- und Gerichtsverfahren reihen sich so eng aneinander und werden dann von angerufenen Obergerichten so prompt gedeckt, dass der Vorwurf des Missbrauchs gerichtlicher Verfahrensweisen zu politischen Zwecken naheliegt.
Das alles haben die Anwälte Lula da Silvas in einem Antrag an den UN-Hochkommissar für Menschenrechte zusammengefasst: Sie rügen darin die Willkür bei der polizeilich erzwungenen Vorführung Lulas vor den Untersuchungsrichter (ohne vorherige Vorladung) ebenso wie die Verletzung der Grundsätze der Unschuldsvermutung, des fairen Gerichtsverfahrens und der Rechte auf Privatheit, speziell durch Abhören von Telefonen und Durchsuchung von Privatwohnraum. Auch das Abhören der Telefone seines Verteidigers gehört dazu. Alle diese Vorwürfe bestätigt das erstinstanzliche Urteil gegen Lula. Allerdings rechtfertigt Richter Moro sie in jedem Fall ausdrücklich nicht nur mit der Schwere der gegen Lula vorgebrachten Vorwürfe, beziehungsweise mit Strafvorwürfen gegen den Verteidiger, sondern auch mit der Behauptung, Lula habe Beweismittel zerstören, Zeugen beeinflussen und das Gericht einschüchtern wollen.
Die Kritik am Vorgehen der brasilianischen Justiz gegen Lula beruht also nicht allein auf deren Einäugigkeit oder der ständigen Befeuerung der öffentlichen Kampagne und der Voreingenommenheit des Richters Moro, sondern auch auf der permanenten Verletzung unverzichtbarer rechtsstaatlicher Prinzipien. Deshalb sprechen brasilianische Juristen längst von „lawfare“, also davon, dass die Gerichte unter dem Vorwand der Korruptionsbekämpfung unter Missbrauch ihrer Instrumente den politischen Kampf der brasilianischen Machtelite gegen die verhasste politische Linke unterstützen.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts am 24.01.2017 muss all das berücksichtigen. Das erstinstanzliche Urteil des Richters Moro ist außergewöhnlich lang und geschwätzig: In den 961 Absätzen auf den 186 Druckseiten der englischen Übersetzung legt er nicht nur die Anklagepunkte und seine Bewertung dar. Er macht vielmehr Stimmung durch die ständige Abqualifizierung Lulas, durch vage Behauptungen und durch die geradezu eintönige Ablehnung der Anträge seiner Verteidiger.
Man merkt die Absicht: Der auffällige Mangel an Beweisen soll überdeckt werden. Das gelingt nicht. Es bleibt bei viel zu vielen nicht belegten, nicht nachprüfbaren Annahmen, Vermutungen, Unterstellungen und Behauptungen, die auf Hörensagen beruhen oder von in Haft befindlichen Kronzeugen stammen, denen der Staatsanwalt – immer wieder mit eilfertiger Zustimmung des Gerichts – undurchsichtige Vorteile versprochen hat. Sehr häufig wird der Inhalt dieser „Deals“ auch im Gerichtsverfahren nicht transparent oder nachprüfbar. Die Glaubwürdigkeit der Aussagen der Kronzeugen bleibt zusätzlich auch deshalb ein Problem, weil nicht einmal die in Deutschland dafür üblichen Mindestsicherungen eingehalten sind.
Auf diese Weise bleibt der Vorwurf der Vorteilsannahme durch Lula im Hinblick auf Geld, aber auch im Hinblick auf Eigentum, Besitz oder sonstige Vorteile im Zusammenhang mit einem Apartment unbewiesen. Auch der Strafvorwurf, er sei als Staatspräsident für die Korruption bei Petrobrás verantwortlich gewesen, muss ohne den Nachweis seiner persönlichen Intervention, Beeinflussung oder Nutznießung für rechtsstaatliche Ohren abenteuerlich klingen: Schließlich konnten nicht einmal die Kronzeugen im Gerichtsverfahren mehr als die bekannte Tatsache bestätigen, dass Staatspräsident Lula zuständig war für die Nominierung von Direktoren des Staatskonzerns.
Die Verfahrensleitung durch Richter Moro spiegelt dessen Voreingenommenheit von Anfang an wider. Er bezeichnet Lula mehrfach als Teil eines kriminellen Systems und wertet Anträge seiner Verteidigung, etwa die auf Feststellung der Befangenheit des Richters, aber auch Klagen etwa beim UN-Hochkommissar, die er für unberechtigt erklärt, als vorwerfbare Einschüchterung des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und der Zeugen. Auch Äußerungen Lulas, in denen er sich in der Öffentlichkeit gegen das Vorgehen der Justiz wehrt, qualifiziert er als Bedrohung und Verleumdung, während er öffentliche Stellungnahmen von Richtern gegen Lula rechtfertigt.
Richter Moro widerspricht sich zudem selbst: Wären nur einige seiner Vorwürfe der Beweismittelunterdrückung und Zeugenbeeinflussung gegen Lula bewiesen, wie durch die hohe Gefängnisstrafe von neuneinhalb Jahren unterstellt, dann wäre die weitere Entscheidung kaum zu vertreten, Lula bis zur endgültigen Entscheidung des Supreme Court auf freiem Fuß zu lassen.
Kurzum: Das Berufungsgericht in Porto Alegre muss Moros Urteil aufheben, auch wenn es dadurch zu erkennen gibt, dass dieses Verfahren gegen Lula da Silva als Politikum längst zum Fall Moro geworden ist. Die Aufrechterhaltung des Urteils würde nicht nur der glaubwürdigen und wirksamen Korruptionsbekämpfung, sondern zugleich der Rechtsstaatlichkeit in Brasilien schaden. Ob das Bundesgericht in Porto Alegre so entscheidet, ist jedoch mehr als zweifelhaft: Zu sehr sind auch Richter dieses Gerichts öffentlich in die politischen Auseinandersetzungen und Kampagnen Brasiliens verstrickt.
* Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin war von 1998 bis 2002 Bundesministerin der Justiz und gehörte von 1972 bis 2009 dem Deutschen Bundestag an. Quelle: IPG [Internationale Politik und Gesellschaft], 23.01.2018.
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