Staatsführer können angeklagt werden, wenn sie einen Angriffskrieg führen – ein Fortschritt für das internationale Strafrecht. Claus Kreß* berichtet und kommentiert:
„Jemand muss für diesen Krieg verantwortlich sein, der Millionen der besten Männer Europas das Leben genommen hat. Ist niemand hierfür verantwortlich zu machen? Wenn das der Fall ist, dann gibt es eine Gerechtigkeit für den armen und erbärmlichen Kriminellen und eine andere für Könige und Kaiser.“
Mit diesen Worten forderte der britische Premierminister David Lloyd George Ende November des Jahres 1918 ein internationales Strafverfahren gegen den ehemaligen deutschen Kaiser Wilhelm II. Die Juristenwidersprachen ganz trocken: Das beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs geltende Völkerrecht kenne kein Verbrechen gegen den Frieden.
Das soll sich jetzt ändern. Es mussten zwar fast 100 Jahre vergehen, bis zum 15. Dezember des vergangenen Jahres. An diesem Tag ist in New York ein Durchbruch gelungen. Unter Mitwirkung Deutschlands, das im 20. Jahrhundert für die größten und verheerendsten kriegerischen Auseinandersetzungen der Menschheitsgeschichte verantwortlich wurde, entschieden die Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs, dass der Gerichtshof vom 17. Juli 2018 an Staatsführer wegen der Planung, Vorbereitung, Einleitung und Durchführung von Angriffskriegen zur Verantwortung ziehen kann.
Als am 8. Mai 1945 der von Adolf Hitlers faschistischer Diktatur entfesselte Zweite Weltkrieg endete, war die internationale Weltgemeinschaft von solch einem Rechtsregime noch weit entfernt. Dennoch kam es 1946 in Nürnberg auf Betreiben der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) zum großen schöpferischen Präzedenzfall: Das Internationale Militärtribunal erklärte das Führen eines Angriffskriegs zum schwersten internationalen Verbrechen.
Der charismatische US-Chefankläger Robert Jackson hatte zuvor ausgeführt, eine nachhaltige Wirkung für die Weltordnung können von diesem Urteil nur ausgehen, wenn das zugrunde liegende Recht in der Zukunft allgemein zur Anwendung kommen sollte, falls geboten auch gegen Staatsführer derjenigen Mächte, die in Nürnberg über die Repräsentanten des NS-Regimes zu Gericht saßen.
So eindringlich der Chefankläger Jackson den Ausruf formulierte, so ungehört verhallte er in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs. Und nichts anderes galt auch dann noch, als das Völkerstrafrecht in den 1990er Jahren unter dem beklemmenden Eindruck der Gräuel der Kriege auf dem Balkan und des Völkermords in Ruanda wiederbelebt wurde und die Vereinten Nationen (UN) die Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda einsetzen, um Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen.
Sogar als 1998 in der italienischen Hauptstadt Rom der erste ständige internationale Strafgerichtshof der Rechtsgeschichte ins Leben gerufen wurde, erwies sich die Ahnung der „Aggression“, wie das Nürnberger „Verbrechen gegen den Frieden“ inzwischen heißt, als politisch zu brisant für eine Einigung auf der internationalen diplomatischen Bühne.
Nun ist sie im Dezember [2017] in New York nach härtestem Ringen um letzte juristische Details erzielt worden. Ein völkerrechtshistorischer Meilenstein! Der Straftatbestand der Aggression ist eng formuliert. Nur eindeutige und schwere Verletzungen des Gewaltverbots werden erfasst, also nicht etwa völkerrechtlich umstrittene humanitäre Interventionen, die wie im Fall Kosovo 1999 als letztes Mittel zum Schutz einer existenzbedrohten Zivilbevölkerung zum Einsatz kommen.
Zudem sind die Hürden für die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs sehr hoch. Angriffskriege von Staaten, die wie China, Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika dem Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof noch gar nicht beigetreten sind, können nur dann vor das Tribunal gelangen, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zustimmt. Und dort sitzen die drei genannten Staaten.
Mit einem Strafverfahren ist daher lediglich im Ausnahmefall zu rechen. Und doch ist die Bedeutung der jetzt in New York erzielten historischen Einigung nicht zu unterschätzen. In eine Zeit, in der Russland die rote Linie des Verbots gewaltsamer Annexion von fremdem Staatsgebiet durchbrochen hat und Nordkorea und die Vereinigten Staaten von Amerika martialische Kriegsdrohungen austauschen, ist das nicht zuletzt an das „Weltgewissen“ gerichtete völkerrechtliche Signal von New York gegen den Angriffskrieg nicht nur wichtig – es ist notwendig.
*Claus Kreß, Professor für Straf- und Völkerrecht an der Universität zu Köln, hat am 15. Dezember 2017 die deutsche Delegation in New York als wissenschaftliches Mitglied begleitet. [Quelle: Claus Kreß, Gastbeitrag, Frankfurter Rundschau, 23.01.2018, Seite 10]
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