Die Probleme der EU drohen zu einem undurchschaubaren Geflecht zu werden. Eine gesamteuropäische Verteilung der Menschen auf der Flucht [Fliehende und Geflohene] und verbesserte Seenotrettung werden sie nicht lösen, meint der Journalist Arno Widmann* im Leitartikel einer überregionalen Tageszeitung. Arno Widmann schreibt:
Heute debattieren die führenden Politiker Europas über die nach Europa fliehenden, vor den Kästen Europas sterbenden Menschen. Morgen werden sie über Griechenland sprechen. In den Augen der Welt mag diese kleine westliche Ausbuchtung der riesigen asiatischen Landmasse ein Hort der Seligen sein. Sich selbst ist Europa fast nur noch ein Problem. Nein: eine Problemhydra mit immer neuen, fauchenden Köpfen.
Der Euro schwächelt, Russland holt sich die Krim, verbeißt sich in die Ostukraine, Griechenland steht vor dem Staatsbankrott, Italien schwankt, Rechtsradikale drängen in fast allen europäischen Ländern in die Parlament. Der Traum von Europa ist den Europäern ein Alptraum geworden.
zu viel Europa?
Weil es zu viel Europa oder weil es zu wenig Europa gibt? Die Antwort ist völlig klar. Es gibt zu wenig davon. Eine gemeinsame Währung ohne eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik muss scheitern.
Wenn der Schutz europäischer Grenzen den Grenzstaaten überlassen wird, werden die und mit ihnen Europa scheitern.
Genauso wenig kann Europa die Bewältigung der aus Afrika und Vorderasien kommenden Menschen auf der Flucht [Fliehenden und Geflohenen] Italien, Frankreich und Spanien überlassen.
Europa reguliert, wie eine Gurke auszusehen hat, aber es verschließt die Augen vor allen wirklich drängenden Fragen. Wir sind in Europa inzwischen so eng verflochten, dass kein Problem mehr nur national angegangen werden kann. Aber Europa hat es nicht geschafft, sich zu europäisieren. Geschweige denn, das demokratisch zu tun. Demokratie ist auch in Europa noch immer nationalstaatlich organisiert. Je mehr Europa, heißt darum auch, desto weniger Demokratie.
Das war in der Anfangszeit des europäischen Vereinigungsprozesses anders. Da war Europa nicht nur für Deutschland der Weg in die Demokratie, sondern auch für Griechenland, für Spanien und Portugal.
Nach dem Wendepunkt des Jahres 1989 war es nicht anders. Europa half den vormals kommunistischen Ländern – trotz aller bürokratisch-zentralistischen Anwandlungen – auf dem weiten Weg nach Westen.
Inzwischen aber stauen sich die Probleme so sehr, dass sie sich ineinanderschieben und zu einem undurchschaubaren Geflecht zu werden drohen. Wer heute auf die Lage der [Fliehenden und Geflohenen] schaut, der sieht auf die Situation der Länder auf der anderen Seite des Mittelmeeres.
Es ist völlig klar, dass es mit einer verbesserten Ausstattung der Seenotrettungseinsätze, dass es sogar mit einer gesamt-europäischen Verteilung der [Geflohenen] nicht getan sein wird. Ohne eine Verbesserung der Verhältnisse in Afrika und im Nahen Osten wird sich nichts tun.
Agrarpolitik entzieht anderen ihrer Lebensgrundlage
Das ist nicht zu schaffen. Wahrscheinlich auch für ein vereintes Europa nicht. Schon gar nicht, wenn die Agrarpolitik dieses vereinten Europas alles tut, um die Agrarwirtschaft im Rest der Welt in die Knie zu zwingen.
Die Art, wie wir unsere Bauern unterstützen, sorgt dafür, dass die afrikanischen Bauern zu uns fliehen.
Probleme werden, so sagen manche, nicht gelöst, sondern nur durchneue abgelöst. Sie haben wahrscheinlich recht. Aber das darf uns nicht daran hindern, es wenigstens mit dieser oder jener Lösung zu versuchen.
Wenn die europäischen Staaten sich nicht bald darauf einigen, eine umfassende – auch deutlich über das alte Mare-Nostrum-Projekt hinausgehende – Seenotrettung im Mittelmeer zu organisieren, dann wird es weiter die Bilder geben, an die wir uns nicht gewöhnen wollen.
Ausweg?
Wir werden angesichts der Situation in Afrika und im Nahen Osten nicht darum herumkommen, mehr [Fliehende] aufzunehmen, als wir das in den vergangenen Jahren taten. „Wir“, das heißt Europa. Das heißt aber eben auch die Bundesrepublik. Wir werden Einrichtungen und Gesetze schaffen müssen, die es den [Fliehenden und Geflohenen] erlauben, ihren Lebensunterhalt in Europa zu verdienen. Wer das nicht möchte, der muss sagen, dass er mit Luft- und Seestreitkräften bewaffnet gegen die [Fliehenden] vorgehen wird.
Beides kann schiefgehen. Unter anderem darum, weil zum Beispiel Griechenland nicht auf die Beine oder in Frankreich Marine Le Pen das Sagen bekommt. Oder weil Russland seine auf der Krim stationierten Schiffe nutzt, um zu verdeutlichen, dass es ohne Russland keine Mittelmeerpolitik geben kann.
Den Europäern unter den Einwohnern Europas geht die Zeit aus. Sie sollten die wirklich Beunruhigten sein. Von ihnen sollten die europäischen Institutionen, sollten die nationalen Regierungen unter Druck gesetzt werden.
Wenn wir so weitermachen wie bisher, schliddern wir immer tiefer in den Schlamassel. Wir können nicht fliehen fordern europäischen Krisen. Aus ihnen heraus hilft uns nur Europa.
*Arno Widmann: Europäischer Alptraum. Leitartikel. Frankfurter Rundschau 23.04.2015, Seite 11 [eigene redaktionelle Korrekturvorschläge in eckigen Klammern. B.K-S.]
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