Schultze, Andrea: „In Gottes Namen Hütten bauen“.
Kirchlicher Landbesitz in Südafrika: die Berliner Mission und die Evangelisch-Lutherische Kirche Südafrikas zwischen 1834 und 2005.
München: Franz Steiner Verlag 2005. Missionsgeschichtliches Archiv Band 9. Geschichte. 619 S. € 49,00 ISBN 3-515-8276-X.
© Ben Khumalo-Seegelken
Auf der Grundlage von bisher wenig untersuchten Archivquellen und eigenen Interviews zeichnet die Theologin und Afrikanistin Andrea Schultze den Entstehungsprozess und die Anstrengungen zur Selbstbehauptung in zehn jener Gemeinschaften in Südafrika nach, die zu Zeiten britischer und burischer Kolonialherrschaft nach 1834 durch die Berliner Missionsgesellschaft (BM) gegründet worden waren, dann in der Apartheidära (1948-1994) enteignet und zwangsumgesiedelt wurden und mittlerweile Anträge auf Rückgabe von Land gestellt haben. Sie greift damit ein Thema auf, das sowohl in Südafrika als auch in Deutschland aus unterschiedlichen Gründen „lange tabu“ (18) war.
13 Einzel- und 7 Gruppeninterviews von je zwei bis zweieinhalb Stunden hat die Verfasserin während zweier mehrmonatiger Forschungsaufenthalte in Südafrika von November 1997 bis Februar 1998 und von März bis April 2000 mit Bewohnern und Bewohnerinnen ehemaliger Berliner Missionsstationen geführt.
„Information und Hilfestellung“ (18) ebenso wie „Erinnerungs- und Diskussionsanregung“ (18) soll diese als „chronologische Übersicht“ (17) aufgebaute Untersuchung denen bieten, die als Betroffene und Entscheidungsträger in Südafrika und als „politisch, afrika-historisch und missionsgeschichtlich Interessierte“ (18) sich mit Fragen der eigenen Geschichte, der Verwobenheit mit dem Kolonialismus, der interkulturellen Begegnung und des Umgangs mit dem Fremden auseinandersetzen. Mit drei aufeinander bezogenen Ansätzen geht die Verfasserin die Aufgabe an: 1. Quellensichtung, 2. historische Darstellung und 3. Interpretation und Verknüpfung mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen. (24)
Aus ausdrücklich europäischer Perspektive schreibt Andrea Schultze ihren Beitrag; sie arbeitet daher mehrheitlich mit europäischen Quellen und legt ihren Schwerpunkt auf die deutsche Missionsgeschichte. (24-25) „Das Thema `Land´ aus der Perspektive südafrikanischer Kirchengeschichte zu behandeln, bleibt südafrikanischen Kirchenhistorikern vorbehalten.“ (25)
Die Studie verwendet Quellen aus Südafrika und Deutschland, um aufzuzeigen, wie individuelle Erfahrung von Betroffenen mit gesellschaftspolitischen, historischen und sozialen Kontexten verwoben sein kann und welche Sinndeutungsmuster sich im Zusammenhang mit heutigen land claims in Bezug auf „Land“ und „Heimat“ erkennen lassen. (39)
Den drei Hauptteilen (A-C), die den großen Bogen von den Grundlagen von „Mission und Land“ (51-174) über „Schenkungen, Institutionen und Grants“ (175-514) bis hin zu Verständigungsprozessen „zwischen Mission, Kirche, Gemeinden und Staat“ (515-544) spannen, ist eine straff gehaltene, dennoch aufschlussreiche Einleitung vorangestellt, die in Ausführungen u.a. zu hermeneutischen Vorbemerkungen 21-24, Methodik 24-28, Quellenkritik 28-48 und Terminologie 48-50 untergliedert ist.
Über die Frage hinaus, welche „expliziten und impliziten (Land-)Ansprüche“ die Missionare mit ihrer Sendung, in “Gottes Namen Hütten bauen” zu wollen, verbanden, geht die Verfasserin auch umfassend auf damit zusammenhängende Fragen ein (18-19): Gab es eine theologische Begründung für den Erwerb ausgedehnten Landbesitzes? Wie ist die BM unter die anderen Akteure der Kolonialgesellschaft einzuordnen, in welcher Weise war sie an der Landnahme der europäischen Einwanderer im südlichen Afrika beteiligt? Welchen Einfluss übten die koloniale Politik und das Vorbild anderer Missionsgesellschaften auf die BM und ihre Entscheidungen aus? Welches Missionsmodell lag ihrer Arbeit zugrunde? Welche Stellung bezogen die Mitarbeitenden der Mission zur rassistischen Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere zu Apartheid und Zwangsumsiedlungen? Wie stellt sich das Wirken der BM im Vergleich zu anderen Missionsgesellschaften dar? Und schließlich: Wie verhalten sich das Berliner Missionswerk und die aus der Missionsarbeit hervorgegangene Evangelisch-Lutherische Kirche im Südlichen Afrika (ELCSA) heute zu den Restitutionsfällen?
Die unterschiedlichen Rollen, die „Kolonialregierung, Siedlerfamilien und Missionare“ bei der Landnahme spielten und die zur Entrechtung und Verarmung großer Teile der einheimischen Bevölkerung führten, bespricht Andrea Schultz im Themenkomplex, der u.a. „Charakteristika afrikanischer Landnutzungssysteme“ (86-89), „Formen des Landerwerbs“ (93-107), die „Wirkungsgeschichte der alttestamentlichen Theologie des Landes“ (124-125) und die „Namensgebung von Missionsstationen“ („Königsberg“, „Stendal“, aber auch „Bethanien“, „Pniel“) (130-138) umfasst und bis in die „Konfliktfelder im 20. Jahrhundert“ (139-175) reicht. Dabei wird die „Unterredung“ zwischen den „Akteuren und Akteurinnen der missionarischen Begegnung“ als „mutually constraining embrace“ (Comaroffs 1991:198) eingeordnet und nach zwei Kategorien – „conversion“ und „conversation“ – differenziert. (53)
Von „Schenkungen, Instituten und Grants“ handelt der zweite Hauptteil (175-513), in dem die Autorin die Akteure eingehend vorstellt und die Vorgänge etwa bei der sogenannten „erste(n) Land-`Schenkung´“ durch einen „Chief“ 1834 (182-186) und der anschließenden „Gründung der ersten Berliner Missionsstation“ (186-188) erläutert. „Landzugewinne durch Eroberungskriege“ (374-385), „Farmwirtschaft und Landverkäufe (1881-1945)“ (385-402) werden plausibel geschildert; anschließend wird zum Vergleich die „Landpolitik anderer Kirchen und Missionsgesellschaften“ (510-515) dargestellt.
Die aktuellen Verständigungsprozesse „zwischen Mission, Kirche, Gemeinden und Staat“ (515-544) schließen sich als dritter Hauptteil an, führen in den Sachverhalt „Landreform“ (515) ein, umreißen die Teilthemen „Gesetzeslage“ (515) und „Land Claims auf Berliner Missionsstationen“ (515) und schließen die „kirchlichen Stellungnahmen zur Landfrage (nach 1990)“ (525-533) sowie die „Stellungnahme des Berliner Missionswerks (BMW) zur Geschichte der Berliner Mission“ (528-532) mit ein. Die Autorin fasst zusammen: „Das Ergebnis der in Teil A und B geschilderten Entwicklung in Südafrika war eine extreme Ungleichverteilung des Grund und Bodens entsprechend der rassistischen Behandlung verschiedener Bevölkerungsgruppen. Am Ende der Apartheid hatten Schwarze, und damit 80% der Bevölkerung, Zugang zu nur 13% des Landes. Fast der gesamte Grundbesitz lag in den Händen weißer Farmer, großer Konzerne oder der Regierung. Eine Landreform gehörte daher nach 1990 im Rahmen der Bemühungen um Wahrheit und Versöhnung (truth and reconciliation) sowie um Wiederaufbau und Entwicklung (reconstruction and development), aber auch um der innenpolitischen Stabilität und der wirtschaftlichen Entwicklung Südafrikas willen zu den vordringlichen Aufgaben der Regierung Nelson Mandelas.“ (515)
In der anschließenden Zusammenfassung und Ausblick (533-544) hebt die Studie die Dynamik im Verhältnis zwischen „Missionaren und konkurrierenden europäischen Siedlern“(535)hervor und fügt hinzu: „Beide kämpften hartnäckig um den Eintrag in das Grundbuch der jeweiligen, häufig ebenfalls konkurrierenden britischen oder burischen Kolonialregierung.“ (535)
Zwar räumt die Verfasserin ein, dass Missionare „für ihre Arbeit zweifellos auf Land angewiesen“ waren; sie meldet jedoch deutlich Zweifel daran an, „ob Missionsstationen Ausmaße `von der Größe eines Fürstentums in Deutschland´ haben mussten“, und verhehlt nicht ihre Missbilligung darüber, dass das Rechtsverhältnis zwischen Missionar und Gemeinde sich dementsprechend gestaltete. (537)
Dem „Literatur-„ (551-586) und dem „Archiv- und Quellenverzeichnis“ (545-55) folgen Register und weitere Verzeichnisse mit sorgfältig ausgewählten und übersichtlich präsentierten Hinweisen und Hintergrundinformationen als Bestandteile des materialreichen Anhangs (545-619), der der vorgelegten Studie vorzüglich ansteht.
Standort des Werkes in der theologischen Forschung
In ihrer doppelten Qualifikation als Theologin und Afrikanistin rückt Andrea Schultze die Mythen und ihre Wirkungskraft in der Geschichte bis in die Gegenwart von Missionsarbeit und Kolonialismus in Südafrika ins Blickfeld; sie nennt als ihre Absicht, sich der „überfälligen ENTMYTHOLOGISIERUNG“ zu widmen, was dann anschließend – wenn auch nicht immer explizit – durchgehend und überzeugend geschieht. Die „Zusammenschau historischer, theologischer, juristischer, politischer und ökonomischer Aspekte“ und der Beitrag zur „Überarbeitung der bisherigen Lesarten der Geschichte“ (19) gelingt.
Indem die Verfasserin die Frage aufwirft und durch die verschiedenen Phasen ihrer Forschungsarbeit weiter verfolgt, ob es im untersuchten Zeitraum der Kolonial- und Missionsgeschichte in Südafrika „eine theologische Begründung für den ausgedehnten Landbesitz“ (18) gegeben habe, bewegt sie sich auf bewährtem theologiegeschichtlichem Terrain, schlägt die Brücke zur Gegenwart und führt in die ebenso politisch aktuelle wie forschungsrelevante Frage ein, welche „exegetischen, ethischen und systematisch-theologischen Richtlinien … den Kirchen nach dem Ende der Apartheid für den Umgang mit Land zur Verfügung“ stehen.(20) Dadurch bahnt sie den Weg zu einem „konstruktiven, deutsch-südafrikanischen Dialog über die uns in Teilen gemeinsame Vergangenheit (SHARED HISTORY).“ (20)
Mit ihrer Forschungsarbeit leistet Andrea Schultze einen überfälligen Beitrag dazu, maßgebliche Kontinuitäten und notorische Sackgassen im kolonial- und missionsgeschichtlichen Diskurs unter Auswertung mündlicher und schriftlicher Quellen umfassend und fächerübergreifend zu thematisieren. Dadurch ist ein anspruchsvolles Geschichtsbuch und verlässliches Nachschlagewerk hervorgegangen, das dazu beitragen kann, Praxis und Theorie transkultureller Konfliktforschung und Friedensarbeit neu zu bestimmen. Nachdem Fritz Hasselhorn 1988 eine Untersuchung des Zusammenhangs von Missionsarbeit und Kolonialismus im Wirken einer deutschen Missionsgesellschaft und ihren Umgang mit Grund und Boden in Südafrika (1850-1945) vorgelegt hatte, erfährt die deutsche Missionswissenschaft jetzt durch Andrea Schultze einen weiterführenden Anstoß zu selbstkritischer Reflektion und Neugestaltung – ein Stück Reformation!
Ausblick
Positiv ist zu werten, dass sich die Verfasserin konsequent einer Ausdrucksweise bedient, die bewusst nicht ausgrenzt, herabwürdigt oder polemisiert. Menschen aus Europa und Afrika, Männer und Frauen, werden vorgestellt, zitiert und in ihrem Verhalten und Handeln analysiert und beurteilt, ohne dass sie im Gefolge vorherrschender oder überkommener Fremdbezeichnungen und Zuschreibungen festgelegt werden und Sachverhalte und Verhaltensweisen auf Unterschiede in der Hautfarbe zurückgeführt werden. Die „Apartheidterminologie“ und die herkömmliche und weitverbreitete Praxis der „Unsichtbarmachung von Frauen“ (49) in öffentlichen Macht- und Verantwortungssphären können überwunden und durch eine inklusive und geschlechtergerechte Ausdrucksweise ersetzt werden; die Missionswissenschaftlerin und Afrikanistin Andrea Schultze führt uns überzeugend vor Augen, wie das gelingen kann.
Ein weiteres Mal wird auch die Erkenntnis bestätigt, dass Quellen im Bemühen um „Wahrheit“ selten übereinstimmen; vielmehr widersprechen sie sich und regen zu erhöhter Vorsicht im Umgang mit ihnen an, sowohl was mündliche sowie schriftliche Quellen betrifft. Ist aber die „erhebliche Einseitigkeit missionarischer Quellen“ erst einmal zugegeben, (die in bisherigen Beiträgen zur Missionsgeschichtsschreibung sich `nur´ in einer „Beschreibung der europäischen Sicht auf das Geschehen in (anderen Ländern und Erdteilen)“ erschöpfte), ist es nun gleichermaßen geboten, auch das „kommunikative Gedächtnis“ (40) mündlicher Überlieferung vor dem Hintergrund möglichen Verschwimmens zwischen Mythen und Tatbeständen, dem „floating gap“, zu betrachten und beim Versuch der „Rekonstruktion vergangener Realität“ (21) entsprechend kritisch zu bewerten. Eindrücklich führt die Studie anhand der ausgewerteten Quellen vor Augen, dass und wie „Vergangenheit im Gedächtnis konstruiert“ wird: „Vergangenheit ist keine Aneinanderreihung objektiver Fakten, sondern ein KONSTRUKT der individuellen bzw. kollektiven Identität.“ (39)
Schultzes Untersuchung der ausgewählten Stimmen und Interessengegensätze aus 160 Jahren jüngerer Zeitgeschichte regt insgesamt zu einem erneuerten Prozess der Verständigung zwischen Europa und Afrika auf der Grundlage neu gewonnener (Selbst-)Erkenntnisse an; sie kann ein Umdenken darüber befördern, was Mission unter postkolonialen Bedingungen sein könnte und sollte.
Ben Khumalo-Seegelken
© Khumalo-Seegelken, Ben, in: THEOLOGISCHE REVUE Nr. 3/2011 Spalten 300-302, Münster: Aschendorff, 2011 ISSN 0040-568 X
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