INTERVIEW _ Julian Pahlke … über menschenunwürdige Lager und die notwendige Unterstützung ziviler Seenotrettung

Julian Pahlke*:

„Die EU ist nach rechts gerutscht“

Der Bundestagsabgeordnete Julian Pahlke (Grüne) über menschenunwürdige Lager, die Haltung seiner Partei und die notwendige Unterstützung ziviler Seenotrettung.

Ein Interview von Pitt von Bebenburg

Herr Pahlke, warum war, wie sie gesagt haben, die EU-Asyl-Einigung der bitterste Tag“ Ihres politischen Lebens?

Der Beschluss führt nicht dazu, dass die Staaten an den Außengrenzen der EU entlastet werden und die Verantwortung in der EU fair verteilt werden, wie die Befürworter uns glauben lassen wollen. Auf der anderen Seite führt er nicht dazu, dass die Situation von Geflüchteten verbessert wird. Im Gegenteil. Syrische und afghanische Schutzsuchende erhalten möglicherweise keinen Schutz mehr in der EU, sondern könnten in Drittstaaten zurückgeschoben werden. Das ist aus meiner Sicht das Ersetzen eines dysfunktionalen Systems durch ein anders dysfunktionales System. Das ist asylpolitisch falsch.

Viele Menschen aus der Flüchtlingsbewegung sind enttäuscht, dass die Grünen das Ergebnis mittragen. Was sagen Sie ihnen?

Es war ein Kompromiss, der zwischen den Staaten und innerhalb der Bundesregierung getroffen wurde, nicht nur von den Grünen. Wir haben das auf dem Kleinen Parteitag aufgearbeitet. Da ist deutlich geworden, dass wir Grünen den Schutz von Flüchtlingen immer auch weiter als zentrales Thema der Partei sehen. Das bringt der Beschluss, den wir dort gefasst haben, sehr deutlich zum Ausdruck. Denn am Ende wird ein breiter Diskurs darüber geführt werden, ob das Verhandlungsergebnis des Triloges (den Verhandlungen von EU-Parlament, Kommission und Rat, Red.) zustimmungsfähig ist.

Gibt es für Sie Grenzen dessen, was inhaltlich tragbar ist?

Wir haben erlebt, wie hoch die Verhandlungsdynamik im Rat (dem Gremium der Regierungen der EU-Staaten, Red.) sein kann., und wir schnell krude Ideen auf einmal Einzug finden können in Verordnungsteste. Für mich ist klar, dass dabei immer für die Rechte von Menschen auf der Flucht gekämpft werden muss. Das war ja auch Teil der Auseinandersetzung auf dem Parteitag.

Wie viel Hoffnung auf Änderungen, etwa dazu, dass in den Lagern an den Grenzen keine Familien mit Kindern eingesperrt werden, haben Sie, wenn nun das EU-Parlament involviert ist?

Wir haben als Ziellinie klar beschlossen, dass wir uns als Grüne auf allen Ebenen für klare asylpolitische Verbesserungen einsetzen. So wir die Einigung gerade ist, kann sie nicht bleiben. Doch das Europaparlament steht den Staats- und Regierungschefs gegenüber. Ich finde es schwierig abzuschätzen, wo der Einigungskorridor sein könnte.

Können diese Lager menschenwürdig ausgestaltet werden?

Wir sollen uns nicht der Illusion hingeben, dass durch die neuen Verordnungen menschenwürdige Lager entstehen. So viel sollten wir aus den vergangenen Jahren gelernt haben. Wenn am Ende bis zu 120 000 Menschen in Lagern untergebracht werden, zeigen uns die letzten Jahre, wie unwürdig die Zustände dann werden. Entweder weil aus den Lagern die pure Verwahrlosung spricht. Oder weil es eine totale Überwachung gibt wie auf den griechischen Inseln, wo die Livebilder teilweise bis ins Migrationsministerium nach Athen übertragen werden. Das ist nicht unsere Vorstellung von einem würdigen Umgang mit Menschen auf der Flucht, die am Ende bis zu sechs Monate in diesen Lagern leben müssen. Mein Ziel ist es, für einen menschenwürdigen Umgang mit Menschen auf der Lücht zu kämpfen, auch wenn Ziele da manchmal in weiter Ferne liegen.

Rückt die EU mit so einer Politik nach rechts?

Die EU ist seit Jahren mit ihrer Politik nach rechts gerutscht. Das lag an Wahlergebnissen und neuen Regierungskonstellationen. Nun hat man Staaten nachgegeben, die einen menschenfeindlichen Kurs fahren. Das hätte Bundesinnenministerin Nancy Faeser als Verhandlungsführerin nicht tun sollen. Das führt am Ende zu solch unwürdigen Diskussion wie der, ob Kinder in Grenzverfahren und damit in Haft kommen, oder nicht. Umso wichtiger ist es, dass es immer noch viele Menschen gibt, die dagegen laut sind. Sowohl in den Parlamenten wie auch in der Zivilgesellschaft in den vergangenen Wochen. Und das nicht nur hier in Deutschland.

Zugleich werden die Fluchtbewegungen Richtung Europa nicht kleiner. Viele Kommunen sehen sich an ihren Grenzen. Wie müsste eine humanitäre Flüchtlingspolitik aussehen, die sich diesen Themen stellt?

Wenn Innenministerin Faeser den Kommunen verspricht, dass die Lage durch den EU-Beschluss für sie besser wird, dann ist das schlicht die Unwahrheit. Selbst. Wenn die Verordnungen beschlossen werden, wird die Umsetzung Jahre dauern. Die Kommunen brauchen aber hier und heute Unterstützung. Dadurch, dass man Menschen an den Außengrenzen inhaftiert, ist in keiner Kommune eine Wohnung gebaut oder ein Kit-Platz geschaffen. Deshalb müssen die Kommunen breiter unterstutzt werden, auch vom Bund. Planbar und langfristig, um auf mögliche weitere Fluchtbewegung vorbereitet zu sein.

Das heißt, die Kommunen brauchen mehr Geld vom Bund?

Ja. Gerade bei einem Krieg, der so nahe ist wie der Krieg in der Ukraine, müssen wir immer darauf vorbereitet sein, weitere Menschenaufzunehmen. Oder sollen wir etwa an der polnisch-ukrainischen Grenze Zäune hochziehen? Das wäre doch irre. Daher brauchen die Kommunen Geld, um ihre Infrastrukturauszubauen. Es geht nicht nur um die Unterbringung, sondern auch darum, wie die Menschen hier Teil der Gesellschaft werden können. Dass Sprach- und Integrationskurse angeboten werden. Dass Kinder in den Unterricht integriert werden. Dafür brauchen wir eine Politik mit Weitblick.

Gilt das nur für Menschen aus der Ukraine?

So wie ukrainische Geflüchtete behandelt werden, so müssten alle Geflüchteten behandelt werden. Stattdessen werden Menschen zurückgeprügelt, wie wir es an der griechischen grenze sehen. Die Strukturen, die wir für Menschen schaffen, die sich vor Putins Bomben gegen die Ukraine in Sicherheit bringen, sollten genauso denjenigen zugutekommen, die sich vor Putins Bomben in Syrien oder vor den Taliban in Afghanistan in Sicherheit bringen. Diese Menschen gegeneinander auszuspielen, finde ich unwürdig. Das ist eine Abschaffung von europäischen Werten.

Sie sind persönlich der Seenotrettung verbunden. Welche Unterstützung benötigen die Organisationen, die das leisten?

Die Seenotrettungs-Organisationen im Mittelmeer brauchen überhaupt mal ein Ende der Kriminalisierung. Wenn man diese Organisationen wenigstens ihre Arbeit machen lassen würde, die wohlgemerkt die Arbeit der europäischen Staaten wäre, dann wäre schon viel erreicht – dass Schiffe nicht tagelang zu einem sicheren Hafen fahren können, dass Schiffe nicht festgehalten werden. Außerdem wird Deutschland den Organisationen bei der Finanzierung unter die Arme greifen, wie wir es im Deutschen Bundestag beschlossen haben. Man hat mir im Auswärtigen Amt noch einmal versichert, dass man sich bei der Finanzierung auf der Zielgeraden befindet. Das ist eine pragmatische Lösung in Zeiten, wo die Spenden deutlich zurückgegangen sind und auf der anderen Seite die Betriebskosten massiv steigen.

Die Stadt Frankfurt/M hat sich zum „sicheren Hafen“ erklärt. Die Organisation Seebrücke hofft nun, dass die Stadt die laufenden Kosten für ein Schiff übernimmt und gerettete Menschen aufnimmt. Eine berechtigte Forderung?

Ich halte das für ganz wichtig. Es stärkt die Wahrnehmung des Leids auf dem Mittelmeer. Auf einmal ist das nicht mehr weit weg, sondern kann vor Ort durch Aktionen begleitet werden. Die Stadt hat die Möglichkeit, in einer der größten humanitären Katastrophen der letzten Jahre konkret zu helfen. Wir sehen ja, was passiert, wenn nicht genügend Rettungskräfte vor Ort sind, wenn europäische Staaten wegschauen oder sich sogar zu Komplizen machen. Dann sterben Menschen so wie bei dem jüngsten Unglück vor der griechischen Küste. Das ist keine Aufgabe von Staaten alleine, sondern einer werteorientierten Gesellschaft.

* Julian Pahlke war jahrelang in der zivilen Seenotrettung auf dem Mittelmeer unterwegs. Der 31-Jährige war in verschiedenen Funktionen für die Organisationen „Jugend Rettet“, „SOS Méditerranée“ und „Sea Eye“ tätig.

Dem Deutschen Bundestag gehört der Grünen-Politiker aus Niedersachsen seit 2021 an. Im Parlament sitzt Julian Pahlke in den Ausschüssen für Europa und für Inneres. Pit

Quelle: Pitt von Bebenburg, Frankfurter Rundschau, 01.07.2023, Seite 4 [eigene Hervorhebungen]

>> OFFENER BRIEF _ Bundeskanzler Olaf Scholz _ Das Recht Flüchtender und Geflüchteter hierzulande und europaweit

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