Ursula Ott: Von der Schwierigkeit, das Elternhaus zu verkaufen

Abschied vom vierten Gebot?

Viele Eltern haben Häuser gebaut: für die Kinder, die Enkel, die Ewigkeit. Aber die nächste Generation zieht von Bad Bentheim nach Berlin, von Norddeich nach Neuseeland, lässt sich scheiden, heiratet neu – kann und will den Auftrag der Alten nicht erfüllen, der in den mühsam ersparten Häusern steckt. Das Elternhaus wird verkauft oder abgerissen. Einerseits: ein Glück! Deutschland braucht Wohnungen. Andererseits: Wie schwer! “Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren”, heißt es im vierten Gebot. Wie entsorgt man schwere Schrankwände, ohne die alten Besitzer zu kränken und zu verletzen?

Ursula Ott* erzählt in der Sendereihe GLAUBENSSACHEN auf NDR-Kultur, am 4. Februar 2018 Von der Schwierigkeit das Elternhaus zu verkaufen:

Sprecher:
Nun aufwärts froh den Blick gewandt/
Und vorwärts fest den Schritt/
Wir gehn an unsers Meisters Hand/
Und unser Herr geht mit.

Erzählerin:
Das Kirchenlied Nummer 394 ertönt auf dem schlichten Klavier in unserer kleinen Gemeindekirche in Oberhofen. Ich sitze neben meiner alten Mutter, es ist das letzte Mal, dass wir hierher zum Gottesdienst kommen. Zufall, dass der Pfarrer gerade dieses Lied ausgesucht hat. Für ihn ist es nur der 22. Sonntag nach Trinitatis. Für uns ist es der große Tag.

Und vorwärts fest den Schritt. Morgen früh wird der Umzugswagen kommen, der Esstisch, Fernsehsessel, Kaffeetassen mit Goldrand und 17 Fotoalben aus unserem Elternhaus abholt. Streng genommen ist es schon gar nicht mehr unser Haus. Wir haben es verkauft, entschieden, beschlossen und besiegelt von einem Notar – nach über 50 Jahren. Weil es nicht mehr passte für die Mutter, so alleine in einem großen Haus. Zu viele Treppen, zu viele Stolperfallen, zu weit weg vom nächsten Arzt oder Bäckerladen. Wir haben es verkauft, weil keines der Kinder im Haus wohnen wird. Längst sind beide Töchter weit weg gezogen, haben ihre eigenen Wohnungen in anderen Städten. Haben geheiratet, sich scheiden lassen, sind krank geworden und wieder gesund, sind ins Ausland gegangen und wieder gekommen. Alle haben ihr eigenes Leben, weit weg von der Heimat.

Wir haben es zusammen entschieden, beschlossen und besiegelt. Die Mutter und die erwachsenen Töchter. Immer wieder haben wir uns gesagt: Papa, längst tot, fände es auch richtig. Die Vernunft spricht dafür. Und vorwärts fest den Schritt. Und doch wissen alle, die alte Mutter, die Töchter und die Enkel: Das Herz wird schwer werden.

Sprecher:
Vergesset, was dahinten liegt/
Und Euern Weg beschwert/
Was ewig euer Herz vergnügt/
Ist wohl des Opfers wert.

Erzählerin:
Ich sitze in der Kirchenbank und höre die Zeilen. „Vergesset was dahinten liegt“ – eine richtige Motivationshymne ist das Lied Nummer 394. Der Lieddichter August Hermann Franke schrieb es 1889, da war er bereits schwer an einer Lungenentzündung erkrankt. Aus Überanstrengung. So fühlen wir uns auch, an jenem Herbsttag 2017: Angestrengt. Denn natürlich vergisst man nicht mal so eben, was dahinten liegt und unsern Weg beschwert. So wird es dem Theologen Franke damals gegangen sein, drum dichtete er dagegen an. So geht es uns heute, drum singen wir dagegen an.

Was dahinten liegt, das ist die Geschichte des Elternhauses. Es ist die typische Geschichte der Nachkriegsgeneration, die Häuser gebaut hat. Meine Eltern sind 1930 geboren, beide Familien waren „ausgebombt“ nach dem Krieg. Mit nichts standen sie da, aber voller Tatendrang. Aufgebaut haben sie dieses Land, und dazu gehörte auch: Ein Haus bauen. Kinder zeugen. Bäume pflanzen.

Ich selber war sechs Jahre alt, als wir in das Haus einzogen. Ich weiß es tatsächlich noch, denn eigentlich, ganz ehrlich, fand ich es gar nicht schön, unser neues Haus. Vorher hatten wir zur Miete gewohnt, auf einem Bauernhof, mit einem großen Bauerngarten, wo Erdbeeren, Bohnen und Tomaten wuchsen, wo es gemütlich nach Misthaufen stank und morgens Kühe muhten. Meine Eltern wollten da raus. Raus aus dem Bauernhof, rein in ein frei stehendes Einfamilienhaus, gebaut aus weißem Ytong, das war in den 60gern modern, mit großer Doppelgarage, breiter Auffahrt und englischem, kurz geschorenen Rasen. Und sie wollten: Raus aus der Miete, rein in ein Eigenheim.

Es sollte ein Haus werden, das man vorzeigen konnte, genau wie man uns Kinder gerne vorzeigte. Es sollte aber auch ein Haus werden für uns Kinder, für unsere Enkel. Niemand konnte damals, in den 60er Jahren, ahnen, dass Mädchen später mehr wollten vom Leben als heiraten und Kinder bekommen und den Haushalt weiter führen. Draußen in den großen Städten, in Berlin, Frankfurt und Paris mochten seinerzeit, 1968, die Barrikaden brennen. Aber bei uns in Schwaben war die Biografie von Töchtern ziemlich erwartbar: heiraten, Kinder kriegen, einen Haushalt führen.

Als wir jetzt, Ende 2017, die Kisten einräumen, sagt meine Mutter plötzlich: „Das Hausbauen, das war die schlimmste Zeit in meinem Leben.“ Ich sehe sie verblüfft an. Wie – für Dich auch, Mama? Du wolltest es doch, das Haus? Wir machen Pause vom Packen, und sie erzählt, wie der Streit mit den Handwerkern, dem Architekten und der Bank ihre Ehe schwer belastet hatte. Ich bin erleichtert. Aber es war, sage ich zu ihr, es war auch ein gutes Haus. Wir hatten viele gute Jahre. Wir werden jetzt versuchen, es in Würde zu verabschieden.
„Du sollst Vater und Mutter ehren“ heißt es im 4. Gebot. Dazu gehört auch: Danke sagen für das Haus, das Vater und Mutter für uns gebaut haben. Danke sagen und es dennoch verlassen.

Sprecher:
Und was euch noch gefangen hält/
O werft es von euch ab!
Begraben sei die ganze Welt/
Für euch in Christus Grab.

Erzählerin:
Die ganze Welt ist in Christus Grab begraben. Aber unser Vater und unser kleiner Bruder, sie sind hier begraben, am Heimatort. Dürfen wir sie verlassen? Denn das ist unser Plan: Wir verkaufen das Elternhaus. Und die Mutter soll zu uns in die Großstadt ziehen, 200 Kilometer entfernt. In eine betreute Wohnanlage, wo sie nicht mehr alleine ist wie im großen einsamen Elternhaus. Wo sie nicht mehr Auto fahren muss. Wo sie die Enkel öfter sehen kann, zu Fuß zur Kirche und zum Arzt. Aber was ist mit dem Grab? Es ist dann 200 Kilometer entfernt. Und der Trost, dass wir alle bei Christus begraben sind, er reicht nicht aus für die ganz praktischen Fragen: Wer wird sich darum kümmern, dass im März bunte Primeln und im November ein Gesteck aus Astern auf Papas Grab sind? Wer wird gießen und harken? Das alles kann man organisieren, beim Gärtner in Auftrag geben. Aber schwerer noch wiegt: wenn wir das Haus verkaufen, wenn wir alle weit weg vom Grab der Eltern wohnen – wo wird der Ort des Gedenkens sein? Wo kann die Mutter künftig Zwiesprache halten mit dem verstorbenen Ehemann, gerade jetzt, wo sie das von ihm gebaute Haus verkauft? Ist es recht, was ich da tu? Oder ist es verkehrt? Der Friedhof ist der Ort, an dem sie Zwiesprache hält mit dem verstorbenen Mann.

Andererseits: Soll man an einem Haus festhalten wegen eines Grabes? Ist es nicht wichtiger, dass wieder lebendige kleine Kinder, Lärm und Leben in das Haus einziehen? Hätte Papa das nicht auch richtig gefunden? Zum Glück hat er in seinen letzten Lebenstagen so was gesagt, angeblich. Nimm dir eine kleine Wohnung. Es klingt wie eine Erlaubnis.

Das Familiengrab, es zählt zu den Dingen, die zerren an meiner Mutter. Die sie ans Haus binden wie ein unsichtbares Seil. Was auch bindet: die evangelische Kirchengemeinde. Fast 50 Jahre ist sie sonntags zum Gottesdienst gekommen, hat vor Weih-nachten Advents-Plätzchen gebacken und im Januar bei der Vesperkirche das Essen an Arme verteilt. Jetzt, da sich die Neuigkeit vom geplanten Umzug herumspricht – jetzt kommt der Pfarrer nach Hause. Will wissen, was los ist, stimmt es, was er gehört hat. Sie wollen uns verlassen? Die Stütze der Gemeinde?

Ich rufe den Pfarrer an, ein vernünftiger Mann, selbst mehrmals umgezogen. Man verliere ungern so ein aktives Gemeindemitglied, sagt er. Ich bitte ihn loszulassen – denn auch am neuen Wohnort gibt es eine sehr gute Gemeinde, eine Pfarrerin, die meine Mutter schon kennt und sich freut. Und ist das nicht auch eine Aufgabe von Kirche: Die Übergänge des Lebens gut zu begleiten? Und dabei auch Mut zu machen?

Kurz darauf sitzt der Geistliche wieder in unserem Wohnzimmer, das inzwischen schon Lücken aufweist. Herr Pfarrer, kennen Sie keine bedürftigen Menschen in der Gemeinde, die unsere Möbel brauchen können? Unsere Teller? Und siehe da: Gerade gestern hat eine afghanische Familie die Aufenthaltserlaubnis bekommen. Ja, sie brauchen fast alles. Was für ein Glück.

Sprecher:
So steigt ihr frei mit ihm hinan/
Zu lichten Himmelshöhn/
Er uns vorauf, er bricht uns Bahn/
Wer will ihm widerstehn.

Erzählerin:
Ab jetzt geht es wirklich voran. Hinan zu lichten Höhn, wie der Lieddichter schrieb. Plötzlich ist ganz viel Leben in unserem halbleer geräumten Haus, das die letzten Jahre nur von einer Person bewohnt war. Die Kinder der neuen Familie, an die wir verkauft haben, kommen immer wieder zum Begutachten und Ausmessen. Und es kommen Menschen, die Geflüchteten helfen. Die katholische Nonne, die Männer aus Ghana betreut, parkt ihren Kombi samt Anhänger auf unserer Einfahrt und lädt Betten auf. Die afghanische Familie, die unser evangelischer Pfarrer betreut, nimmt ganze Sofagarnituren mit. Und eine alte Schulfreundin, die syrischen Kindern Deutsch beibringt, holt das Besteck.

Aber natürlich geht es nicht immer so glatt – das Ausräumen mit Würde und Anstand. Es gibt Gegenstände, an denen hängen zwiespältige Erinnerungen. Da sind diese 36 Gläser aus Kristallglas, so schwer, als wären sie aus Blei. Die geflüchteten Familien können sie nicht brauchen – wie überhaupt alles was groß und schwer ist, schwer an den Mann und die Frau zu bringen ist. Elternhäuser sind eher groß, geräumig und haben Schrankwände aus dunkler Eiche, die in einem Stück gefertigt sind. Ärmere Familien, ob deutsch oder aus anderen Ländern, haben kleinere Wohnungen. Sie brauchen Schränke, die man abbauen und zerteilen kann. Sie brauchen eher bunte und praktische Trinkbecher als schwere aus Bleikristall.

Also wohin mit den Gläsern. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, jemals daraus getrunken zu haben. 36 – so viele Gäste hatten wir doch gar nie? Unsere Familie ist klein, mein Vater hatte keine Geschwister und wenig Spaß an Verwandtschaft. 50 Jahre haben wir in dem Haus gewohnt, aber ich kann mich an keine große Party erinnern.

Als ich das meiner Schwester sage, geraten wir beinahe in Streit. Sie hat die Familie ganz anders in Erinnerung. Gastfreundlich, offene Tür, rauschende Kindergeburtstage. Aber welchen Sinn hat es, das fast leere Haus nun auch noch zum Gegenstand einer Familientherapie zu machen? Lass uns doch jetzt noch mal feiern, schlägt sie vor.

Und so lädt sie alle Schulfreundinnen, die noch am Heimatort wohnen oder zum Heimatfest zurückkommen, zu einer großen Hausabschiedsparty ein. Sie sind Mitte 50, sie kommen gerne, trinken aus den Bleikristallgläsern, hocken bis spät abends im Garten und tauschen Erinnerungen aus an die Kindergeburtstage.

Und danach dürfen sie gehen, die Gläser. Wir fahren die schweren Umzugskisten zum Fairkaufsladen der Caritas, wo ärmere Leute Möbel und Geschirr günstig einkaufen können. Und siehe da: In einer Schrankwand, die unserer zuhause ähnelt, stehen bereits an die 100 Dessertschalen und Gläser, die unseren stark ähneln. Klar, alle sind am Ausräumen. Und da mein Jahrgang 1963 der geburtenstärkste überhaupt ist – treffen die Gegenstände unserer Kindheit jetzt wieder aufeinander. Viele Gegenstände.

Wir müssen beide lachen, meine Mutter und ich, als wir die vielen Gläser sehen, die alle gleich aussehen. Und wir malen uns aus, wie sich die selten benutzten Gläser jetzt fühlen, wenn sie ihresgleichen im Regal finden. Und hoffentlich bald eine Großfamilie, die damit richtig Party macht. Hochzeit! Taufe! Ach, das wäre schön.

Sprecher:
Drum aufwärts froh den Blick /
Und vorwärts fest den Schritt!
Wir gehen an unsers Meisters Hand/
Und unser Herr geht mit.

Erzählerin:
Am Jahresende ist es dann soweit. Der Tag des Umzugs naht, ich fahre zum letzten Mal den weiten Weg mit dem klapprigen Regionalzug in die Heimat. Vorwärts fest den Schritt – nein, ganz so fest ist er nicht. Ich habe Bammel vor diesem letzten Gang, bin nervös. Zähle die letzten Stationen jeden Bahnhof, ach hier hat mal unser Schulausflug begonnen. Und da hat mein Kind auf dem Weg zur Oma sein Plüschtier verloren. Und als mein Vater starb, wie klein und zerbrechlich meine Mutter da am Bahnhof stand. Nein, von dem Gottvertrauen, das der Lieddichter besingt, spüre ich wenig.

Meine Mutter steht am Bahnhof, deutlich entschlossener als ich. Sie hat sich alles gut überlegt: Kochen können wir nichts mehr, die Töpfe sind verpackt. Aber Essen beim Metzger holen und eine Art Picknick in der leeren Wohnung machen. Ich staune. Meine Mutter ist 88. Sie hat im Gegensatz zu mir nie in ihrem Leben Camping gemacht. Camping! Mir fällt ein, was eine befreundete Familientherapeutin sagt, wenn Familien an Häusern hängen, die nicht mehr passen. „Häuser sind nur Zelte aus Stein“. Zelte darf man abschlagen. Häuser verlassen. Und die Generation unserer Eltern ist auf ihre Art auch robust. Sie hat einen Krieg überlebt.

Genau das sagt sie den Nachbarn, die nicht verstehen, dass man im Alter noch umzieht. Sie sagt: „1945 war unser Haus zerbombt, und wir hatten nichts. Heute fange ich wieder von vorne an, aber diesmal bin ich wenigstens gefragt worden.“ Ich zucke jedes Mal zusammen, wenn sie das zu Nachbarn sagt. Haben wir ihr Leben zerbombt? Zerbombt. Was für eine Metapher.

Aber ich ärgere mich auch über die Nachbarn, die uns den Aufbruch so schwer machen. Warum nur muss meine Mutter sich ständig rechtfertigen für ihre Entscheidung? Klar, weil fast alle Hausbesitzer hadern mit dem Gedanken: was ist, wenn es hier nicht mehr geht? Es ist die pure Angst – oh je, das kommt auf unsere Familie auch zu. Und sie werden meine Mutter vermissen, es ist also ihr gutes Recht, traurig zu sein.

Was mich aber richtig wütend macht: Wenn die Generation der Kinder – also meine – einen ideologischen Krieg anzettelt über die Frage: Elternhaus verkaufen oder nicht? Wie oft habe ich diesen Satz gehört: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“. Ich lerne ihn zu hassen. Ich höre ihn mindestens vier, fünf Mal. Beim Klassentreffen, bei Familienfesten. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“. Mich ärgert das. Eine Freundin fahre ich entnervt an: Weißt du, was du da sagst? Kann es sein, dass der alte Topf nicht mehr passte? Dass es ein neues Biotop gibt, in dem der Baum Wurzeln schlägt und neue Blüten treibt?

Überhaupt, dieses „Man“. Man verkauft sein Elternhaus nicht. Man verpflanzt seine alte Mutter nicht. Es erinnert mich an die ideologischen Grabenkriege, die ich 20 Jahre zuvor über die Frage führte: Man gibt sein Kind nicht in die Krippe. Was sind wir doch für eine verbohrte Frauengeneration, die aus jedem Lebensmodell eine Religion macht? Denn es ist doch so: für die eine Familie mag es genau richtig sein, dass die alten Eltern im Haus bleiben, die Kinder sich kümmern, meist ja die Töchter. Wenn es nicht mehr geht, muss oft die polnische oder weißrussische Pflegerin kommen. Für die andere Familie mag es besser sein, das Haus zu verkaufen und umzuziehen. Wie schwer wir Kinder es uns machen, nur die eigene Entscheidung mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Und jede andere zu verurteilen.

Das Kinderzimmer ist weg. Das Nest. Der Ort, wo man Unterschlupf finden konnte, auch wenn das Leben einen beutelt. Wenn der Job weg ist, der Mann, die Frau. Man konnte zurück ins Elternhaus. Stimmt, diese Option ist dann wirklich weg. Und auch für mich gibt es diesen Moment, wo es mich ins Herz sticht. Am letzten Abend vor dem Umzug ist mir flau im Magen. Ich höre meine Mutter tapfer sagen: Normalerweise würde ich Dir jetzt eine Wärmeflasche machen, aber den Wasserkocher habe ich der Putzfrau geschenkt und die Wärmflasche ist in der Umzugskiste.

Also heißt es erwachsen werden, endgültig. Und vorwärts fest den Schritt. Als am Umzugstag im Morgengrauen der Lastwagen kommt und unsere Möbel mitnimmt, ist unser Tritt wirklich wieder fest. Wir werden das schaffen. In letzter Minute fällt der Mutter ein: Sie könnte ja noch ein paar Blumen aus dem Garten mitnehmen für die neue Wohnung.

Die Blumen fliegen als letztes ins Umzugsauto. Es geht los. Ein neues Abenteuer, mit 88. Und es wird gut werden. Die erste Kiste, die wir in der betreuten Wohnung aus-packen – sie ist voller Geschirr. Und ich dachte, wir hätten fast alles den Flüchtlingen gegeben? „Ich will ja hier auch wieder Gäste einladen“, sagt meine Mutter selbst-bewusst und räumt viele Tassen in den neuen Küchenschrank. Und die Wärmflasche. Die lag ganz oben in der Umzugskiste. Gleich heute Abend will sie mir eine Wärmflasche machen. Kind, du musst kaputt sein von diesem Umzug. Stimmt, ich fühle mich fast so angestrengt wie der Lieddichter Franke vor 100 Jahren.

Sprecher:
Nun aufwärts froh den Blick gewandt/
Und vorwärts fest den Schritt/
Wir gehen an unsers Meisters Hand/
Und unser Herr geht mit.

Erzählerin:
Das Haus ist weg, es war nur ein Zelt aus Stein. Die Mutter bleibt meine Mutter. Ich werde sie ehren bis ans Ende meiner Tage.

*Ursula Ott, Chefredakteurin von chrismon

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