„Geht es bergab mit Deutschland oder bergauf? Wird die Welt schlechter oder besser?“ „Beides, natürlich“, meint Lenz Jacobsen* und fährt fort:
Der Spiegel veröffentlichte vor Kurzem eine sehr besondere Ausgabe. Die Titelgeschichte beschrieb detailliert und abwägend die ökonomische Entwicklung Deutschlands, aus Anlass des durch den Auftrieb von Martin Schulz umgepolten Wahlkampfs. Besonders war an dieser Ausgabe, dass sie mit zwei verschiedenen, gegensätzlichen Titelbildern verkauft wurde. Eines glänzte golden und trug die Zeile: „So gut geht es den Deutschen“. Das andere war düster, schwarz und verkündete: „So schlecht geht es den Deutschen“.
Das war ein interessanter Marketing-Kniff, an dem etwas Größeres deutlich wird: Der Hang zur Schwarz-Weiß-Malerei.
Damit sind nicht etwa nur Verkürzungen gemeint, wie sie im Journalismus und auch überall sonst üblich sind. Genau genommen ist fast jede Äußerung eine Verkürzung, weil die Realität immer mehr ausmacht und variantenreicher ist als einige vorgefertigte Worte ausdrücken können. Nietzsche hat das den „Metapherntanz“ der Sprache genannt.
Aber auch, wenn man es nicht philosophisch betrachtet, sondern eher praktisch, geht es nicht ohne Verkürzungen. Natürlich kann Der Spiegel nicht ökonomische Studien auf seinen Titel drucken. Die würden da auch gar nicht draufpassen. Außerdem verkaufen sich abwägende Titel schlechter. Wer würde schon zu einem Heft greifen mit der Zeile „So lala geht es Deutschland“?
Nein, was diese Titelbilder von normalen Verkürzungen unterscheidet, ist etwas anderes: Dass sie sich nicht für eine Interpretation der Wirklichkeit entscheiden, sondern einfach die beiden radikalsten Interpretationen dieser Wirklichkeit anbieten. Es kann sich dann jeder aussuchen, wie er die Sache sehen will. Das schwarze Heft für die Pessimisten, das goldene für die Optimisten.
Das treibt das Prinzip der Schwarz-Weiß-Malerei auf die Spitze. Aber neu ist es nicht.
Vor 15 Jahren war es nach dem Mauerfall en vogue, den endgültigen Sieg des Liberalismus auszurufen, weil „in Sankt Petersburg ein McDonald’s eröffnet hat„, wie Adam Gopnik im New Yorker spottet. Die bisherige Menschheitsgeschichte erschien als Vorspiel zum ewigen liberalen Frieden, als hätte alles nur darauf zugesteuert.
Merkwürdigerweise soll jetzt das Gegenteil wahr sein, die „autokratische Apokalypse“ wird ausgerufen, wie Gopnik schreibt. Weil sich Großbritannien sehr knapp für den Brexit entschieden hat und das merkwürdige Wahlsystem der USA einen Präsidenten Trump ermöglicht hat. Auf der Suche nach Erklärungen wird nun kurzerhand die Geschichte, die gerade noch den liberalen Triumph belegen sollte, zur Abstiegserzählung des Liberalismus umgedeutet.
Die Verengung der Geschichte
Beide Erzählungen verengen all die Widersprüchlichkeiten und die Zufälle, verengen die weite Geschichte zu einer schmalen Linie, die vermeintlich wie ein Pfeil in die Gegenwart zeigt. Seht, so kam das alles. Gopnik lästert im New Yorker: „Man fragt sich ja, ob das, was (solche Autoren) durch die Zeitalter aufspüren, vielleicht gar nicht ein richtungsweisender Pfeil ist, sondern eher ein Surfbrett, das steigt und sinkt auf den schnell wechselnden Wellen der Geschichte.“ Der deutsche Journalist Patrick Bahners hat solche Großgeschichtsdeutungen auf die Formeln von der „Unterwerfung der Vorfahren unter die Belange der Gegenwart“ gebracht.
Ähnlich wie mit der Geschichte ist es mit Statistiken. Auch hier erhalten diejenigen die meiste Aufmerksamkeit, die sich einem der Pole zuordnen lassen. Die beispielsweise möglichst prägnant die tatsächliche oder vermeintliche wirtschaftliche Ungleichheit illustrieren, wie die methodisch sehr dünne Oxfam-Studien. Und quasi als Gegenbewegung erfreuen sich auf der anderen Seite jene Grafiken wachsender Beliebtheit, die belegen, dass die Welt im Großen und über lange Zeit vielleicht doch besser wird. Liebling des „konstruktiven Journalismus“ ist der deutsche Ökonom Max Roser, auf dessen Website Our World in Data sich Zahlen vor allem darüber finden lassen, wo und wie sich die Lebensbedingungen auf der Welt verbessert haben.
All das ist legitim. Menschen brauchen reduzierte, verständliche Erzählungen über die Welt, um sie ordnen zu können. Und sei es, dass sie sich nur die Erzählung raussuchen, die am besten zu dem passt, was sie sowieso schon glauben.
Aber man kann bei so viel Schwarz-Weiß-Malerei doch ab und zu an den Wert des langweiligen Sowohl-als-auch erinnern. Es weiß ja eigentlich jeder, dass sich das allermeiste, was um uns herum so geschieht, nicht auf eine Deutung reduzieren lässt.
Also: In manchen Aspekten und Ländern ist der politische Liberalismus stark, in anderen schwächelt er gerade. Einiges spricht für ein weiteres Erstarken der Autoritären, einiges spricht aber auch dagegen. Ja, die Rechtspopulisten in Europa gewinnen vielleicht die Wahlen nicht, aber sie gewinnen an Stimmen hinzu und werden wichtig bleiben. Den Deutschen geht es einerseits ökonomisch gut, andererseits steigt für einige die Unsicherheit. Die Agenda-Reformen haben dem Land sowohl geholfen als auch geschadet.
Das ist natürlich alles, wenn man es so hinschreibt, sehr profan, gar nicht catchy. Aber das macht es nicht weniger richtig.
*Lenz Jacobsen, Die Morgenkolumne auf ZEIT ON LINE, 23.03.2017.
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