„Bereitwillig haben wir vor 25 Jahren mit den asylsuchenden DDR-Bürgern mitgefühlt. Doch die Empathie von damals ist einer Abwehr gegen Flüchtlinge und ihr Elend gewichen.“ – Bascha Mika
„Schon vergessen?“ fragt die Journalistin Bascha Mika im Leitartikel einer überregionalen Tageszeitung neulich [04.10.2014], in dem an den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands erinnert wird, und fährt fort: „Es ist eng, dreckig und riecht nach Körpern, die sich seit Tagen nur wenig gewaschen haben. Schlafsäcke und Decken liegen herum, im Gras, auf der blanken Erde, manchmal ist es auch nur ein Stück Pappe, das jemand auf den Steinstufen ausgebreitet hat. Dazwischen verstreut – persönliche Habseligkeiten. Fast fünftausend Flüchtlinge drängen sich hier auf engstem Raum, haben Angst, sind gereizt, immer mal wieder kommt es zu Handgreiflichkeiten. Wie es weitergeht, wissen sie nicht. Sie hoffen auf die Großzügigkeit ihrer Gastgeber, auf die Einsicht der Politik – und auf ein Wunder.
`Wunder von Prag´
„Dann geschieht, wofür die Flüchtlinge sehr viel riskiert haben. Als `Wunder von Prag´ wird der Tag in die Geschichte eingehen. Am 30. September 1989 verkündet der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon der Deutschen Botschaft in der tschechoslowakischen Hauptstadt: Die Not hat ein Ende! Allen, die zu Tausenden dem sozialistischen Regime entkommen sind, die ihre Heimat in der DDR verlassen haben, wird eine neue Heimat geboten. Sie dürfen in die Bundesrepublik ausreisen. Sie können ein neues Leben beginnen.
„Als sich das Prager Wunder vor wenigen Tagen zum 25. Mal jährte, waren die medialen Bilder der DDR-Flüchtlinge flächendeckend präsent. Dazu die Worte von Hans-Dietrich Genscher: `Ich wusste, wie sich die Menschen fühlen, was es heißt, Freunde und Verwandte zurückzulassen. ´
„Und heute? Alles vergessen? So sieht es fast aus. Flüchtlingselend ist für uns längst wieder das Leid der anderen. Wer sich zurzeit die Debatten zur Flüchtlingspolitik anhört – vom Stammtisch bis ins Regierungsviertel – muss den Eindruck haben, dass sich die Empathie von damals ziemlich verflüchtigt hat.
Das Beschwören gemeinsamer Wurzeln und der Umgang mit Schutzsuchenden heute
„Wenn wir heute Bilder von überfüllten Notunterkünften in Burbach, Münster, Hamburg oder Berlin sehen – fühlen wir uns an die Bilderaus dem Palais Lobkowicz erinnert? Spüren wir etwas von der Bedrängtheit, Bangigkeit und nervenzerfetzenden Ungewissheit, die wir damals bereitwillig mitempfunden haben?
„Zweifellos waren die ostdeutschen Flüchtlinge der übrigen Bevölkerung historisch, biographisch, familiär näher, als es die heutigen Ankömmlinge aus dem Irak oder Afghanistan sind. Aber machen wir uns nichts vor. Die Fremdheit zwischen Ost und West war streckenweise enorm – wie sich bis heute zeigt. Schließich waren die Deutschen auch damals nicht alle untereinander verschwippt und verschwägert; mancher Ostler fremdelte arg mit dem Westen und war den Westlern ähnlich fremd wie die syrischen Muslimin, die hier Asyl beantragt. Das Beschwören gemeinsamer Wurzeln taugt nicht, wenn es um den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit Flüchtlingen geht.
„Darüber hinaus sind die Gefühls- und Stimmungslagen, die zurzeit wieder die Flüchtlingsdebatten landauf, landab begleiten, das Einfallstor für Populisten. Die AfD feiert mit ihrer Propaganda für die geschlossenen Grenzen ausgerechnet dort Erfolge, wo die Republikflüchtlinge einst herkamen. Und wahrscheinlich wird die Partei auch im Westen mit ihrer ressentimentgeschwängerten Politik massenhaft Stimmen abgreifen.
Der Regierung denkbar leicht gemacht, das Recht auf Asyl auszuhöhlen
„Zu jedem Nachrichtenartikel über Flüchtlinge findet sich im Internet eine Flut rassistischer Kommentare. Und es sind nicht nur die üblichen Trolle, die sich da auskotzen.
„Und dann das: Asylbewerber werden von Wachleuten in ihren Unterkünften gedemütigt, verprügelt, behandelt wie Dreck. Seit einige dieser Fälle in Nordrhein-Westfalen bekannt wurden, melden sich weitere Opfer von Schikanen zu Wort. Es sind keine Einzelfälle. Vielleicht sind manche der Täter unverbesserliche Schläger, andere möglicherweise in der Situation nur hoffnungslos überfordert – aber ganz sicher stehen sie mit ihrer verächtlichen Abwehrhaltung gegenüber den Flüchtlingen nicht allein. Sondern mitten in der Gesellschaft.
„So wird es der Regierung denkbar leicht gemacht, das Recht auf Asyl auszuhöhlen. Auch unsere Politiker glauben sich im sicheren Mainstream. Und haben die Unverschämtheit so zu tun, als hätte sie die riesige Zahl syrischer Flüchtlinge in den vergangenen Wochen überrumpelt; als hätte niemand ahnen können, dass mit dem Tod bedrohte Menschen versuchen, sich vor den IS-Schlächtern zu retten; als wäre man deshalb strukturell nicht vorbereitet und müsste Unterkünfte notdürftig von einem Tag auf den anderen aus dem Boden stampfen.
Bootsflüchtlinge im Mittelmeer
„Gleichzeitig sorgen die gleichen Politiker im Rahmen der EU dafür, dass täglich weitere Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ersaufen. Während sie von Schleuserbanden und Rückführungsprogrammen schwadronieren, Abhilfe versprechen und Aktivismus heucheln. Diese EU, wir erinnern uns, ist Trägerin des Friedensnobelpreises.
„Wie sich die Geschichte der DDR-Flüchtlinge damals entwickelt hat, grenzt vielleicht an ein Wunder. Flüchtlinge heute brauchen keine Wunde. Nur Chancen.“
Quelle: LEITARTIKEL, Frankfurter Rundschau, 4./5. Oktober 2014, Seite 11.
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