Juna Grossmann, jüdische Publizistin und Bloggerin aus Berlin, schreibt für eine Rundfunksendung zum Holocaust-Gedenktag 2020*:
- „Mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden während des Holocaust ermordet. An ihr Schicksal erinnert der Holocaust-Gedenktag, der am 27. Januar begangen wird.“,
fährt fort und fragt u.a.:
Ist es nicht im Jahr 2020 endlich Zeit, dass wir selbstkritisch sind, ehrlich mit uns selbst?
Es gibt sie, Menschen, die sich nicht hindern lassen. Es gibt Schulinitiativen, die sich fragen, warum es Gräber von Säuglingen und Kleinkindern mit ost-europäischen Namen auf ihren Friedhöfen gibt. Sie stellen Fragen, recherchieren und erzählen oft verdrängte Geschichten. Es geht nicht [nur] um Schuld, es geht um Achtung und Menschenwürde. Sie zu wahren und den Opfern heute zurückzugeben, passiert nicht so selten, wie man denken mag. Oftmals ungesehen, ohne Prestige für die Beteiligten und gerade das macht mir Hoffnung. In unserer Zeit, in der die Jagd nach Likes und Sternchen für manche Menschen Lebensmittelpunkt zu sein scheint, gibt es noch immer jene, die ohne Aufhebens Erinnerung entstehen lassen und sie wahren.
Die wachsende Fokussierung auf Auschwitz als den Ort des Grauens
sehe ich als Gefahr.
Wir laufen Gefahr, darüber all die anderen Orte
und damit das Ausmaß des nationalsozialistischen Mordens
zu übersehen.
Ich denke, dass mich der 27. Januar wie ein Knoten im Taschentuch daran erinnern kann, wie wertvoll unser Leben heute ist, wie unglaublich zerbrechlich Frieden und Demokratie sind. Dieser Knotentag könnte für mich eine Chance sein, mich mit der Geschichte der Opfergruppen auseinanderzusetzen, denen ich im Arbeitsalltag nicht begegne. Eine Chance, die nicht durch Übersättigung, Überfrachtung und ewig gleiche Reden zerstört werden darf.
Nicht zuletzt gibt es diese dritte Perspektive, mit der ich auf den 27. Januar blicke: meine jüdische Sicht. Ich fragte nicht nur mich, ob der Tag für meine jüdische Identität eine Rolle spielt und beantwortete sie mit nein. Wir haben verschiedene Gedenk- und Trauertage im jüdischen Kalender. Der jüngste dieser Tage ist der Jom HaShoa, der 1951 eingeführt wurde. Nicht nur in Israel, auch in vielen Gemeinden weltweit wird an diesem Tag der Opfer der Shoa gedacht. In meiner Heimatgemeinde Berlin zum Beispiel verliest man seit Jahren die Namen der über 55.500 Berliner Jüdinnen und Juden, die Opfer der Nationalsozialisten wurden und das Grauen nicht überlebten. Orthodoxe Jüdinnen und Juden trauern und gedenken am 9. Av der Opfer der Shoa.
Für mich sind beide Tage von emotionalerer Bedeutung. Sie sind zudem unbelastet von Pflichten und geben mir Raum für eigene Gedanken.
Nicht nur im Judentum gibt es diese spezifischen Tage des Gedenkens. Der Tag des Gedenkens an den Porajmos, der 16. Dezember, ist wenig bekannt. Das Wort Porajmos wird den wenigsten etwas sagen, würde man auf den Straßen des Landes danach fragen. Es ist das eigene Wort der Roma und Sinti für den versuchten Völkermord an ihnen, wie Shoa das Wort der Juden ist.
Selbst 75 Jahre nach diesem Genozid müssen Roma und Sinti in Deutschland und Europa um Anerkennung kämpfen. Erst 2011, 15 Jahre nach Etablierung des Erinnerungstages, hielt mit dem Sinto Zoni Weisz ein Überlebender des sogenannten „Zigeunerlagers Auschwitz“ die Gedenkrede am 27. Januar im deutschen Bundestag. Der Porajmos ist in meinen Augen noch immer zu wenig im allgemeinen Bewusstsein verankert.
Der 16. Dezember wurde nicht ohne Grund gewählt: Am 16. Dezember 1942 wurde der sogenannte „Auschwitz-Erlass“ von Heinrich Himmler unterzeichnet. In diesem Moment war der Völkermord an den Sinti und Roma beschlossen. Bis heute wird er tabuisiert und mit einem „ja, aber“ versehen.
Es gibt kein Aber, es darf kein Aber geben. Es gibt keine guten und nicht so ganz guten Opfer. Jedes einzelne Schicksal zählt gleich. Sinti, Roma und Juden sollten durch die Nationalsozialisten vernichtet werden. Noch heute werden Sinti und Roma verfolgt, erniedrigt und abgewertet. Ein anderes Wort als Schande habe ich dafür nicht.
Mit all meinen Blickwinkeln bin ich ein Mensch, der diese drei Perspektiven, die berufliche, persönliche und jüdische doch nicht voneinander trennen kann. Sie alle gemeinsam bilden meine Sicht auf einen Tag, der Gefahr läuft, das tiefere Nachdenken wegzuritualiseren und damit dem widerspricht, was Roman Herzog im Sinn hatte, als er sagte:
„Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt.“
Es ist an uns, den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes, diesen Tag zu gestalten. Ihm eine Würde und Relevanz für unser Leben und unsere Zukunft zu geben. Was er nie sein darf, ist ein Tag im Kalender, der ein festgelegtes Programm hat, das man abhakt und im Anschluss zählt, wie viele Pressemeldungen man erreichte. Ein Gedenktag aber führt nicht dazu, dass es den Rest des Jahres keinen Rechtsextremismus gibt. Sehr lange waren wir uns sicher, dass wir den richtigen Weg mit unserer Art der ritualisierten Erinnerung gehen. Wenn wir heute schauen, wen wir offensichtlich nicht erreichen konnten, in wem wir eher Abwehr als Interesse wecken, müssen wir uns ernstlich fragen, ob es nicht Zeit ist, von eingetretenen Pfaden abzuweichen. Die neuen Wege werden nicht so bequem zu gehen sein. Wir werden Rückschläge erleben, Sackgassen und Abgründe sehen. Es besteht dennoch eine reale Chance, dass wir Orten und Menschen begegnen, von denen wir bisher zu weit entfernt waren und möglicherweise können wir manche mitnehmen auf einem gemeinsamen Weg.
Wir dürfen nicht zulassen, dass einige wenige, die ein Land von schwarz und weiß anstreben, die Oberhand gewinnen. Es gibt viele Wege nach Rom heißt es, ebenso viele Wege kann es zu einer würdigen Erinnerung in der Zukunft geben, wenn wir sie zulassen – nicht nur am 27. Januar.
*Juna Grossmann, jüdische Publizistin und Bloggerin, Berlin.
aus: NDR-Kultur. Glaubenssachen. 75 Jahre Auschwitz-Befreiung, 26. Januar 2020.
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