„Die Boykottbewegung BDS als antisemitisch zu verurteilen, ist unangebracht. Und es gefährdet die Werte der Demokratie.“ Amos Goldberg*
Oft habe ich wohlmeinende deutsche Freunde sagen hören, dass sie meine Kritik an der Politik der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern verstehen. Manchmal gaben sie sogar zu, sie zu unterstützen. Laut sagen wollten sie das aber nicht. Ihr eigenes Zögern bei der Äußerung von Kritik ist mir verständlich. Die Last der Geschichte kann nicht abgewaschen werden.
Es gibt jedoch Zeiten, in denen der Preis für ein solches Verhalten zu hoch und seine Aufrechterhaltung gefährlich wird, in denen das Versagen, zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik zu unterscheiden, zu moralischer und intellektueller Bequemlichkeit, ja Faulheit wird. Wir erleben jetzt solche Zeiten.
Benjamin Netanjahu hat die völkerrechtswidrige Annexion großer Teile der Westbank angekündigt. Israels Verkehrsminister Bezalel Smotrich hat angedeutet, dass Apartheid die Lösung des Konflikts mit den Palästinensern sein sollte. Bildungsminister Rafi Perez äußerte sich ähnlich.
Es sind aber nicht nur Juden und Palästinenser im Nahen Osten, die den Preis für Passivität zahlen. Die Deutschen bezahlen auch selbst. Mit Hunderten von jüdischen und israelischen Gelehrten beobachte ich, wie das politische System in Deutschland rapide die freie Rede erodiert, wenn es um Israel und Palästina geht, und wie der öffentliche Diskurs in Diffamierung und Rufmord abgleitet.
Ein Katalysator dafür war der Bundestagsbeschluss, der die Bewegung für einen Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel mit Antisemitismus gleichsetzte und damit praktisch aus dem öffentlichen Raum verbannte, obwohl viele, wenn nicht die meisten Antisemitismusforscher, darunter die Professoren Wolfgang Benz und Moshe Zimmerman, geltend machen, dass BDS als solches nicht antisemitisch sei.
Wie ich, unterstützen beide nicht BDS.
Die schwerwiegenden Folgen des Beschlusses treten bereits zutage. Die deutsche Bank für Sozialwirtschaft kündigte der Organisation „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ das Konto, weil sie zu dem Schluss kam, dass diese Juden wegen ihrer Unterstützung von BDS eigentlich selbst Antisemiten seien.
Der Leiter des Jüdischen Museum Berlin, Professor Peter Schäfer, einer der weltweit angesehensten Judaisten, musste zurücktreten, nachdem die israelische Botschaft und Vorsitzenden jüdischer Organisationen, flankiert von israelischen Medien und deutschen Publizisten, ihm vorgeworfen hatten, „antijüdisch“ zu sein. Das Museum hatte gewagt, auf den Aufruf von 240 jüdischen und israelischen Wissenschaftlern an die Regierung hinzuweisen, dem Bundestagsbeschluss nicht zu folgen.
“Ich war einer der Initiatoren des Aufrufs und bin entsetzt darüber, wie mit Professor Schäferverfahren worden ist.” – Amos Goldberg.
Dies ist die Spitze des Eisbergs. °Palästinensern ist es verboten zu protestieren. °Wissenschaftler, die im Verdacht stehen, mit BDS zu sympathisieren, werden nicht zu Konferenzen eingeladen, und der renommierte Historiker David N. Myers, der sich öffentlich gegen [!] BDS gestellt hat, wird nicht in den Beirat des Jüdischen Museums Berlin aufgenommen, weil er dem New Israel Fund vorsteht, der auch kritische israelische NGOs unterstützt und dabei keinerlei Verbindung zu BDS hat.
“Ich warne meine Freunde in Deutschland wegen unserer Erfahrung in Israel: Es steht noch mehr Ärger bevor, falls Sie die Grundsätze der Demokratie, die Meinungsfreiheit und eine prinzipientreue Außenpolitik nicht energisch verteidigen.
Wenn Sie nicht für diese Werte kämpfen, gerade auch im Kontext sensibler Themen, könnte sich Deutschland in fünf oder zehn Jahren in ein weiteres illiberales Bollwerk verwandeln. Seine Politik könnte dann der Israels, Ungarns und Polens ähneln.” – Amos Goldberg.
Es ist schwer vorstellbar, wie schnell solche Verschiebungen stattfinden. Wenn Sie es merken, werden Sie sie nicht mehr rückgängig machen können. Sie werden dann verstehen, dass einer der Meilensteine auf dem Weg zum Abgleiten darin bestand, dass Sie es in einem Klima des um sich greifenden Populismus politischen Akteuren erlaubten, „Antisemitismus“ zynisch oder arglos zu nutzen und Deutschland von seiner mühsam errungenen demokratischen und liberalen politischen Kultur wegzulenken.
„Die Geschichte lehrt uns, dass der Schutz einer Demokratie des Mutes aktiver Bürger und Bürgerinnen bedarf, denn wenn zu viele anständige Menschen davon absehen, die ihr zugrundeliegenden Prinzipien und Regeln zu verteidigen, wankt oder fällt sie.“ – Amos Goldberg.
Deutsche, die diese Werte schätzen und sich um die Integrität Israels sorgen, müssen jetzt ihr ängstliches Zögern überwinden und sich dem israelischen und jüdischen demokratischen Lager anschließen. Sie müssen die Energie aufbringen, zwischen Antisemitismus und Manipulationen zu unterscheiden, die Israel vor der legitimen Kritik an seinen Rechtsbrüchen schützen sollen. Dazu gehört auch, die Verantwortung für jüdisches Leben in Deutschland von Versuchen zur Verzerrung des demokratischen Systems zu unterscheiden.
*Amos Goldberg, Professor an Hebräischen Universität Jerusalem und Spezialist für die Erforschung des Holocaust. [Frankfurter Rundschau, 24. Juli 2019, Seite 10]
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