Buchbesprechung: Gacaca-Gerichte in Ruanda

Sebastian Friese: Politik der gesellschaftlichen Versöhnung
Eine theologisch-ethische Untersuchung am Beispiel der Gacaca-Gerichte in Ruanda
– Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH 2010. 239 Seiten. ISBN 978-3-17-021315-9

Ben Khumalo-Seegelken*

 

Das Buch nach seiner Absicht und seinem Inhalt:

Die Untersuchung, die Sebastian Friese vorlegt, will herausfinden, ob und inwiefern es den Handelnden bei der Aufarbeitung von Verbrechen infolge des Genozids 1994 in Ruanda gelingt, zum selbstverantworteten Prozess der gesellschaftlichen Versöhnung mittels ursprünglich gewohnheitsrechtlicher Institutionen der Gacaca-Gerichte konstruktiv beizutragen.

Gacaca (sprich etwa: Gatschatscha) sind „Gras[wurzel]gerichte“ (12), eine Art Schiedsgericht(e)“ (59) – öffentliche Versammlungen und Verfahren in Ruanda, die „(u)rsprünglich … zur Konfliktlösung von zivilrechtlichen Streitigkeiten auf der Ebene von Dorfgemeinschaften ohne Beteiligung staatlicher Institutionen“ (12) eingesetzt und infolge des Völkermords 1994 entsprechend umfunktioniert wurden: Mit der bis dahin vorherrschenden „Kultur der Straflosigkeit“ (67) sollte durch eine möglichst „vollständige gerichtliche Aufarbeitung“ (67) des Genozids gebrochen und die „eindeutige Botschaft“ (67) gegeben werden, dass Pogrome und Genozidstraftaten zu ahnden und zu bestrafen seien.

Das politische Ziel des in der vorliegenden Arbeit untersuchten gesellschaftlichen Prozesses sei gewesen, „möglichst alle Personen vor ein Gericht zu stellen, die in irgendeiner Form mit dem Genozid zu tun hatten“. (Vgl. Daly, Erin: Between punitive and reconstructive justice. The Gacaca Courts in Rwanda. In: International Law and Politics. 34. 2002. Seite 367) „Anstatt einen Übeltäter […] mittels punitiver Maßnahmen aus der Gemeinschaft auszuschließen, wurde vielmehr dessen Reintegration angestrebt, teilweise unter der Bedingung von Entschuldigungen an die Gruppe“ (Schilling, Sandrine: Gegen das Vergessen. Justiz, Wahrheitsfindung und Versöhnung nach dem Genozid in Rwanda durch Mechanismen transitionaler Justiz. Gacaca Gerichte. Bern 2005. Seite 274) (59) Im kontinentalen und globalen Beziehungsgeflecht, in dem sowohl „d[er] internationale[n] Gemeinschaft“ als auch „d[en] Kirchen“ bescheinigt werden muss, dass sie als potentielle Vermittler kläglich versagt haben, gilt es, durch die nun eigenverantwortlich nachträglich in die Wege geleitete „individuelle Zuweisung von Schuld und Verantwortung“ (66) und Urteilvollstreckung über bis 120.000 Inhaftierte (68) vor insgesamt 11.000 Gerichten im ganzen Land (66) zu beweisen: Ruanda bewältigt seine Probleme selbst und kann dazu auf seine eigene Tradition zurückgreifen und aus ihr Instrumente schaffen, um sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen. (67) „Schuldige wurden verurteilt und Unschuldige kamen frei“. (68)

Lesefreundlich aufgebaut und gedanklich facettenreich entfaltet, gliedert sich Sebastian Frieses Untersuchung in vier Teile – einen Einleitungs- (A) und einen Schlussteil (D) sowie zwei Hauptteile (B und C). Der Kontext und die historischen Hintergründe des Bürgerkriegs 1990 und des anschließenden Völkermords 1994 (21-44) einschließlich eines Einblicks in die innenpolitischen Entwicklungen nach dem Machtwechsel 1994 (44-53) und die gerichtliche Aufarbeitung des Gesamtkonflikts (53-86) bilden die zwei Untergliederungen von Teil B, die mit einer ersten kritischen Würdigung der „Gacaca-Gerichte“ abschließen, in der deren „Stärken und Chancen“ (68), als auch deren „Schwächen und Unzulänglichkeiten“ (73) besprochen werden.

Theologische Perspektiven (103-123) und Beiträge zur gesellschaftlichen Entwicklung (123-199) werden im Hauptteil C nach einer eingehenden Grundlegung (87-103) entfaltet, die sowohl begriffliche Vorüberlegungen zur Versöhnung (87-90) als auch eine Begründung von gesellschaftlicher Versöhnung (90-103) umfasst. Sebastian Friese widmet sich dann Teilbereichen seines thematischen Schwerpunktes und behandelt ansprechend und anspornend u.a. die Themen Menschenwürde als ethisches Prinzip (94), Gott als Initiator von Versöhnung (108-111), Hoffnung auf Vollendung der Versöhnung (113-115),
Rationalität von Gottesgerechtigkeit und Menschengerechtigkeit (118-119) und Menschengerechtigkeit (119-120). Eine zweite kritische Würdigung der Gacaca-Gerichte (203-216), die sich über die Teilthemen Rechtsprechung (203-206), Wahrheitsfindung (207-209), Verantwortungsübernahme (209-211), Erinnerungskultur (211-212), und Versöhnung in Gerechtigkeit (212-214) erstreckt, schließt sich an den Rückblick an (201-203), der den Schlussteil D eröffnet. Eine Auflistung einschlägiger Gesetze, Konventionen, Statuten und Resolutionen (221) sowie eine ergiebige Zusammenstellung von Artikeln und Monographien (222-238) inklusive Forschungsberichten und Schriften aus so genannter „grauer Literatur“ aus Ruanda (18) und aus einschlägiger Sekundärliteratur, die sich aus rechtswissenschaftlicher, soziologischer und politologischer Perspektive mit den Gacaca-Gerichten befassen (13), stehen im Literaturverzeichnis (221-238) vor dem übersichtlichen Abkürzungsverzeichnis (239).

In wohltuender Nüchternheit erläutert der Verfasser die Bemühungen um differenzierte Handhabung des Konfliktlösungsmechanismus der Gacaca-Gerichtsverfahren, indem er die vier Kategorien der Beschuldigten vorstellt, die gerichtlich belangt wurden bzw. werden sollten:

Zur Kategorie 1 gehören die Planer und Organisatoren des Völkermordes, staatliche Autoritätspersonen, die sich am Völkermord beteiligt und Untergebene zu Verbrechen angestiftet haben, sowie Täter, die eine große Anzahl von Menschen umgebracht haben und schließlich Personen, die sich der sexuellen Folter schuldig gemacht haben. Zur Kategorie 2 zählen Personen, die schwere Angriffe auf Menschen durchgeführt oder dazu angestiftet haben mit dem Ziel, diese Menschen zu töten. Die Kategorie 3 umfasst Personen, die zwar körperliche Angriffe begangen oder sich daran beteiligt haben, aber ohne ausdrückliche Absicht, ihre Opfer zu töten. Zur Kategorie 4 schließlich zählen alle jene, die sich des Diebstahls oder der Plünderung schuldig gemacht haben.

Am Versuch des Präsidialamtes, die Verfahren dadurch zu beschleunigen, dass Häftlinge, die gewillt waren, die ihnen zur Last gelegten Gräueltaten zu gestehen, „vorläufig und bedingt freigelassen“ werden konnten, weist der Verfasser exemplarisch darauf hin, dass als Folge viele Inhaftierte meinten, dass sie „besser irgendetwas gestehen“ sollten, um frei zu kommen, und „der Wert solcher Geständnisse [] somit zweifelhaft“ wurde. (69) Für die Überlebenden des Genozids hatte es in solchen Fällen „den Anschein, dass die Freigelassenen nun ohne Verurteilung und ohne Gerichtsverfahren auf freiem Fuß“ seien und sich „ihrer Strafe entziehen“ könnten. (69)

Ob und unter welchen Bedingungen die Gacaca-Gerichte als „ein konkretes Instrument für gesellschaftliche Versöhnung“ geeignet sind und gegebenenfalls auch in anderen Kulturen und Kontexten zum Einsatz kommen können (68), bleibt auch nach dieser Untersuchung offen. Friese gibt unter Anlehnung an Peter Uvin und Charles Mikonko (Uvin, P. / Mikonko, Ch.: Western and Local Approaches to Justice in Rwanda, in: Global Governance. 9. 2003. Seiten 219-231) zu bedenken: Solange man an dem Ziel festhalten will, alle Beteiligten des Genozids gerichtlich zu verfolgen, scheinen die Gacaca-Gerichte ohne Alternative zu sein. („Perhaps the strongest element in favor of gacaca is the lack of an alternative.)” (68)

Der Standort des Buches in der theologischen Forschung

Selbst nach gebührender Würdigung insbesondere der sorgfältig erarbeiteten und plausibel dargelegten theologisch-ethischen Kriterien einer Theorie der gesellschaftlichen Versöhnung (103-123), stellt die vorliegende Untersuchung eher einen Verifizierungsversuch diverser Forschungsansätze als den Neuentwurf einer Versöhnungsethik dar.

Thematische und methodische Vorentscheidungen begründet der Autor zwar plausibel; – ebenso sein Vorhaben, „theologischen Versöhnungstheorien und die Ansätze[n] der Friedens- und Konfliktforschung“ (13) sein besonderes Interesse gelten zu lassen; er lässt es hier jedoch weitgehend bei diesem Hinweis bewenden, zwar verzichtet er nicht darauf, die angesprochenen Theorien und Ansätze darzulegen, geht jedoch kaum darüber hinaus, sich auf eine kleine Auswahl von Autoren zu berufen, deren Positionen er ausnahmslos bestätigt. Zwar versucht der Verfasser seine Konzeption mit dem nachvollziehbaren Hinweis zu rechtfertigen, dass ein theorie-basierter Reflexionsrahmen „dem Konzept der Gacaca-Gerichtsbarkeit und ihren guten Ansätzen [] nicht gerecht“ (18) werden könne, da „eine solche abstrakte Theorie einer jeden konkreten Praxis bescheinigen würde, dass sie unzureichend wäre“ (18). Dennoch bleibt er die Einlösung seines Versprechens schuldig, die speziellen Untersuchungsergebnisse dann „anschließend zu einer allgemeineren Theorie auszuweiten“ (18). Die von der Themenstellung nahegelegten systematisch-theologischen Entwürfe gesellschaftlicher Versöhnung fehlen ebenfalls.

Dass der Autor ausdrücklich erklärt, dass und weshalb in seiner Abhandlung „[selbst] die umfangreiche Arbeit von Ralf K. Wüstenberg keine nähere Beachtung [findet]“ (13 Anm. 7), weckt zunächst Erwartungen auf eine Auseinandersetzung mit alternativ ausgewählten Theorieansätzen und Forschungsergebnissen, die dennoch unterbleibt. Wüstenbergs „[] theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland“ (Wüstenberg: Die politische Dimension der Versöhnung. Gütersloh 2004) hätte Frieses „theologisch-ethische[r] Untersuchung am Beispiel der Gacaca-Gerichte in Ruanda“ zweifellos brauchbare Anstöße geben können, um die Begründungszusammenhänge, die Erfolge und die bei der praktischen Umsetzung des Versöhnungsvorhabens erkannten Unzulänglichkeiten auf der Grundlage jüngerer Konfliktaufarbeitungs- und Versöhnungsansätze – beispielweise in Südafrika seit 1994 – kontextübergreifend, vergleichend und ideologiekritisch zu reflektieren. Auch wäre dadurch die Chance einer wechselseitigen katholisch-/evangelisch-theologischen Bestandsaufnahme und einer interkonfessionellen Perspektivenbeschreibung stärker ins Blickfeld geraten.

Was das Anliegen des Buches fördern könnte

Ein Modell ist bekanntlich kein Patentrezept; Überlebende werden im konkreten Fall immer verschiedene Konzepte vergleichen und gegebenenfalls überarbeiten müssen, ehe sie sie sich zueigen machen und anwenden können. Dennoch bleibt die Frage von Interesse, ob und inwiefern beispielweise die Gacaca-Gerichtsbarkeit auch ein Modell sein kann.

Ein kundiger Zeitzeuge merkte neulich dazu an: „Das Hauptproblem der [Gacaca-]Gerichte wie auch des Arusha-Tribunals scheint [], dass beide sich exklusive auf den Zeitraum des Völkermords beschränken, und die massiven Kriegsverbrechen durch Kagames RPF [des derzeitigen Regierungschefs Paul Kagames Rwandan Patriotic Front (RPF), der politischen Bewegung, die den Bürgerkrieg auslöste und 1994 den Genozid beendete; seitdem Regierungspartei] in Ruanda und im Kongo völlig ausgespart sind. Um wirklich ein Beitrag zur Versöhnung zu sein, müsste die ganze Wahrheit auf den Tisch.“

Die Gesichtspunkte „Rechtsprechung, Wahrheitsfindung, Verantwortungsübernahme, Erinnerungskultur und Versöhnung in Gerechtigkeit“, die Sebastian Friese in seiner abschließenden Würdigung der Gacaca-Gerichtsbarkeit erarbeitet und zu einem Konzept zusammengeführt hat (203-214), werden die Fortführung des Grundgedankens biblisch motivierter „Versöhnung mit dem Nächsten“ (121), den der Verfasser in seinen Ausführungen über „Versöhnung in Gerechtigkeit“ (122) zur Diskussion stellt, trotz der erwähnten Defizite merklich fördern können, und Handelnden in Konfliktaufarbeitungs- und Versöhnungsversuchen weit über Ostafrika hinaus als belastbaren Orientierungsrahmen dienen können. Die ruandischen Gacaca-Gerichte haben, auch wenn sie kontextgebunden sind, mit der von Friese vorgenommenen Darlegung und Erörterung ihr Potenzial verstärkt, doch zum Modell einer Politik gesellschaftlicher Versöhnung zu werden, das wie die Arbeit von Südafrikas Wahrheits- und Versöhnungskommission 1995-1999 afrika- und weltweit konstruktiv herangezogen wird und nachhaltige Wirkung entfalten kann. Versuche der Konfliktaufarbeitung im Sudan, in der Elfenbeinküste, in Liberia, Myanmar (Birma) und Mali, sind einige der jüngsten Beispiele dieser Wirkungsgeschichte.

Die Chance einer wechselseitigen katholisch-/evangelisch-theologischen Bestandsaufnahme, einer interkonfessionellen Perspektivenbeschreibung und ökumenischer Akzentsetzung bei Konfliktlösungs- und Versöhnungsversuchen ist, also durch die Studie von Friese zumindest vorstellbarer geworden, da der Verfasser – zwar widerstrebend, jedoch letztendlich überzeugend – eine Brücke zur „politische(n) Dimension der Versöhnung“ geschlagen hat und den „Umgang mit Schuld nach den Systemumbrüchen“ in Sinne der grundlegenden, „umfangreichen(n) Arbeit von Ralf K. Wüstenberg“ (13 Anm. 7) theologisch-ethisch reflektiert.

Erkenntnisleitend und ausschlaggebend bleibt auch künftig die Feststellung: Zum Leben mit Konflikten gehört es, mit ihnen im Nachhinein angemessen umzugehen. (Friese) (121)

*Khumalo-Seegelken, Ben (2012). In: THEOLOGISCHE REVUE, Münster: Aschendorff,
ISSN 0040-568 X

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