Kein Freund und Helfer

Ein Polizist in Hannover steht im Verdacht, Flüchtlinge misshandelt zu haben. Noch ist nichts bewiesen. Aber Gesellschaft und Politik sollten solche Fälle Anlass zur Umkehr bieten.

Noch ist nichts bewiesen, das Verfahren steht ganz am Anfang. Dass ein Bundespolizist auf der Hannoveraner Bahnhofswache Flüchtlinge misshandelt und sich damit auch noch per WhatsApp gebrüstet haben soll, ist ein Verdacht. Dafür, dass Kollegen des Mannes dabei waren oder zumindest davon wussten, ohne etwas zu tun, gibt es Indizien, mehr nicht. Wer den Rechtsstaat verteidigen will – nicht zuletzt gegen Übergriffe seiner Polizeibeamten -, muss auch die Unschuldsvermutung gelten lassen. Für jeden. So plausibel die Vorwürfe auch erscheinen.

„rechtsmotivierte Gewalttaten“

Aber eines lässt sich jetzt schon sagen: Unsere Gesellschaft hat zwar mehrheitlich an Zivilität und Aufgeschlossenheit eher gewonnen in den vergangenen Jahren. Die Zahlen, mit denen Rassismus, Menschenfeindlichkeit und Islamophobie demoskopisch gemessen werden, gehen zurück. Aber eine Minderheit, nach vorsichtiger Einschätzung um die zehn Prozent, pflegt noch immer harte Ressentiments gegen Ausländer und Asylbewerber. Und die Zahl der „rechtsmotivierten Gewalttaten“ war im vergangenen Jahr fast 23 Prozent höher als 2013, bei den Angriffen auf Asylunterkünfte lag die Steigerung bei satten 120 Prozent.

„Seit zwei Jahren besetzen Rechtsextreme das Thema Flüchtlinge massiv. Jetzt zeigt sich, wie diese Hetze in reale Gewalt umschlägt“, kommentierte die Amadeus-Antonio-Stiftung, benannt nach einem 1990 zu Tode geprügelten Menschen schwarzer Hautfarbe, diese Kriminalstatistik. Und sie verwies mit Recht auf den gutbürgerlichen „Rassismus der Mitte“, der zwar vorerst wieder von der Straße verschwunden ist, aber sicher nicht aus den Köpfen.

Es gibt zwischen diesem Klima und den möglichen Taten eines politisch verirrten und/oder frustrierten Polizisten in Hannover sicher kein nachweisbares, direktes Verhältnis von Ursache und Wirkung. Aber wer hätte erwartet, dass sich der Querschnitt der Bevölkerung nicht auch unter Polizistinnen und Polizisten widerspiegelt?

Man könnte argumentieren, dass menschenfeindliche Anwandlungen im Polizeikorps eher seltener sein müssten als beim Rest der Gesellschaft. Schließlich trete, wer diesen Beruf wähle, ja besonders engagiert für die Wahrung des Rechtsstaats ein – unter Inkaufnahme von Nachtschichten, schlechter Bezahlung und Gefahr für Leib und Leben. So wird es sein bei vielen, sicher bei den meisten Polizistinnen und Polizisten. Aber auf der anderen Seite stehen ein Korpsgeist, der unter schwierigen Bedingungen noch wächst, und nicht selten männerbündische Strukturen mit einer gewissen Neigung zu Machgehabe und Frustabfuhr auf Kosten Schwächerer.

„Racial Profiling“

Nein, es gibt keinen Grund zu glauben, dass bei der Polizei erstaunen müsste, ws es auch sonst in der Gesellschaft an Hass und Abwehrreflexen gibt – bei einer Minderheit, ja, aber mit offenbar zunehmender Tendenz zu Verhärtung und Gewalt. Man erinnere sich nur an die zahlreichen Fälle von „Racial Profiling“, in denen Menschen [nicht-weißer] Hautfarbe offensichtlich ausschließlich wegen ihres Aussehens für Kontrollen herausgepickt werden.

Hannover wäre, richtig verstanden, eines von vielen Warnzeichen an Gesellschaft und Politik. Noch mehr Bürgerinnen und Bürger werden gebraucht, die sich schützend vor Flüchtlinge stellen oder ihnen schlicht im Alltag helfen. Noch mehr Protest wäre angesagt, wenn politische Rattenfänger die Nachbarn bei ihren (oft zunächst verständlichen) Ängsten und Sorgen packen, um Hass gegen Flüchtlinge zu schüren. Die Politik aber kann sich alle Appelle sparen, wenn sie nicht aufhört, die Vorurteile noch zu fördern, womöglich in vorauseilender Angst vor der vermeintlichen oder wirklichen Fremdenangst ihrer Wähler.

Die Politik? …

Nichts anderes tun unsere Politiker, wenn sie die Städte und Gemeinden mit den Kosten für eine menschenwürdige Unterbringung alleine lassen. Nichts anderes tun sie, wenn sie 2000 zusätzliche Beamte für schnellere Abschiebung aus dem Ärmel schütteln statt 2000 Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen für Asylbewerberunterkünfte. Nichts anderes tun sie, wenn sie Flüchtlinge wie eine Last behandeln, die es unter größtmöglicher Schonung des eigenen Landes zu verteilen gilt. Nichts anderes tun sie, wenn sie so tun, als verschwänden die Gründe der Flucht, wenn man die Fluchtboote auf dem Grund des Meeres versenkt. Und nichts anderes tun sie, wenn sie der Bevölkerung ständig einreden, sie „ertrage“ nicht mehr Flüchtlinge, ohne gleich mehrheitlich in Rassismus zu verfallen.

Griffe Politik entschlossen die Toleranz und Hilfsbereitschaft auf, die es in einer Mehrheit der Gesellschaft offensichtlich gibt, dann hätte sie eine Chance, auch jene Minderheit, die das Klima vergiftet, in die Schranken zu weisen. Stattdessen verharren die Verantwortlichen in einer Sprache und weitgehend auch in einer Politik der Abwehr. Dass sie damit direkt Verantwortung trügen für einen bestimmten Vorfall in Hannover und anderswo, wird niemand beweisen können. Aber niemand kann auch behaupten, sie hätten alles getan, um vorzubeugen gegen den gewalttätigen Ausbruch von Menschenfeindlichkeit.

Stephan Hebel.

[Quelle: Frankfurter Rundschau, Leitartikel, 19 Mai 2015, Seite 11]

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