Manche Rechtsexperten fürchten, dass der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) seine Bedeutung verlieren könnte. (Archivbild) © Frederick Florin/AFP/dpa
Der Schutz vor staatlicher Willkür bröckelt
Viele Regierungen erkennen die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht mehr an
Von Sven Christian Schulz
FRANKFURT/M, 04. Nov. 2025: Seit 75 Jahren es die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Doch das Jubiläum an diesem Dienstag fällt in eine Zeit, in der die Idee universeller Menschrechte unter stärkerem Beschuss steht als je zuvor. Dabei war das am 4. November 1950 auch von Deutschland unterzeichnete Abkommen ein historisches Versprechen auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Es sollte garantieren, dass kein Mensch willkürlicher Verfolgung, Folter oder Zwangsarbeit ausgeliefert ist, und jedem das Recht auf Freiheit, Sicherheit und ein faires Gerichtsverfahren sichern. Die EMRK schützt die Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit ebenso wie die Achtung des Privat- und Familienlebens. Heute gilt das Abkommen für 700 Millionen Menschen in 46 Staaten. Über seine Einhaltung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg.
Doch das historische Versprechen gerät ins Wanken. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr mehren sich die Angriffe auf das Abkommen und den Gerichtshof. Neun Staaten, darunter Dänemark und Italien, haben Letzteren in einem offenen Brief scharf für seine Rechtsprechung im Migrationsrecht kritisiert und eine „neue Auslegung“ der Menschenrechtskonvention gefordert. „Die Welt hat sich radikal verändert, seit viele unserer Ideen entstanden sind“, heißt es in dem Schreiben. Der Straßburger Gerichtshof, ein Organ des 46 Mitglieder zählenden Europarats, solle den Staaten größere Spielräume einräumen – etwa bei der Abschiebung von Ausländerinnen und Ausländer oder im Umgang mit Geflüchteten, die von Russland als Waffe eingesetzt wurden.
Enormer Druck
„Diese Forderungen sind unangebracht und stellen eine Gefahr für das europäische Menschenrechtssystem dar“, kritisiert Benjamin Ward, Vize-Europadirektor von Human Rights Watch. Der Menschengerichtshof werde unter enormer Druck gesetzt, sich aus sensiblen Themen wie Migration herauszuhalten, sagt er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Im Bereich der Migration sei es zwar zutreffend, dass nationale Gerichte die EMRK manchmal so anwenden, dass sie die Bemühungen der Regierung zur Abschiebung ausländischer Staatsangehöriger verhinderten. „Das größte Hindernis bei der Abschiebung von Menschen sind jedoch nicht die internationalen Menschenrechtsbestimmungen, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Herkunftsländer der betroffenen Personen häufig ihre Rückführung ablehnen oder nicht kooperieren, wodurch die Abschiebungsbemühungen vereitelt werden“, sagt Ward.
Schon immer gab es Angriffe auf die EMRK. Ungarns rechtspopulistischer Premier Orbán drohte immer wieder mit dem Austritt aus dem Abkommen. Kein europäisches Land steht beim Schutz der Menschenrechte so schlecht da wie Ungarn. Der Gerichtshof hat mehrere Urteile gegen die Regierung in Budapest gefällt, insbesondere wegen der Behandlung von Flüchtlingen., der Abschaffung der Gewaltenteilung und der Einschränkung der Pressefreiheit. Orbáns Regierung hat die Urteil oft nicht der nur unzureichend umgesetzt.
Missachtete Urteile
„Die Weigerung einiger Regierungen, die Urteile vollständig umzusetzen und die anhaltenden Missstände zu bekämpfen, ist das größte Hindernis für die Funktionsfähigkeit des Gerichtshofs und des gesamten Konventionssystems“, sagt Ward. „Zwar schränkt das Gericht zweifellos manchmal staatliches Handeln ein, doch genau dafür ist er geschaffen worden: um die Menschen vor staatlicher Willkür zu schützen und letztlich als Bollwerk gegen Tyrannei und Krieg zu dienen.“ Die Forderungen europäische Staaten ach Reformen im Zusammenhang mit der Migration seien Versuche, den Gerichtshof zu schwächen.
Die politischen Angriffe auf den Menschengerichtshof bleiben laut Juristen nicht folgenlos. So habe das Gericht bereits den Nationalstaaten mehr Handlungsspielräume zugestanden und etwa nicht beanstandet, dass es zu Inhaftierungen an der ungarischen Grenze und Pushbacks von Migranten in Spanien kam. Doch vielen Staaten reicht das nicht: Nach dem offenen Brief der neuen Staaten wird derzeit an einer Erklärung gearbeitet, der sich bereits 20 Staatenanschließen wollen. Für Mittwoch hat Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni deshalb zu einem informellen Treffen nach Rom geladen.
Scharfe Kritik an dieser Entwicklung äußert EU-Parlamentsvizepräsidentin Katarina Barley (SPD): „Der Gerichtshof fungiert als Kontrollinstanz, die eingreift, wenn Grundrechte auf nationaler Ebene nicht hinreichend geschützt werden. Es ist Sinn und Zweck dieser Kontrolle, dass sie losgelöst vom Politik geschieht“, sagt sie. Wenn Entscheidungen als politisch unbequem wahrgenommen werden, zeige das, dass dieser Kontrollmechanismus funktioniere. Barley betont, es sei wichtiger denn je, den Gerichtshof vor diesem Druck zu schützen. „Gerade weil die EMRK ein wichtiger Garant für Menschenrechte ist, ist sie für manche ein politisches Ärgernis – und das muss so bleiben“, sagt sie.
aus: Frankfurter Rundschau, 04.11.2025, Seite 4
pdf: 75 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention
- Siehe auch >> Niedersachsen 2007: „ASYLPOLITIK: Einschüchtern und Abschrecken sind Regierungspolitik!“ [dazu >> Flüchtlingsnetzwerk Oldenburg]
- >>“Völkermord verjährt nicht!„
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