8. Juni 1815 – „Der Deutsche an und für sich“

Horst Dieter Schlosser* erinnert in einem Beitrag, den wir im Folgenden auszugsweise zur Diskussion stellen daran, dass am 8. Juni 1815 der „Deutsche Bund“ gegründet wurde. „Damit“ Schlosser weiter, „entstand ein Volksname zwischen Integration und Ausgrenzung“:

Vor 200 Jahren, am 8. Jun 1815, wurde nach monatelangen Verhandlungen auf dem Wiener Kongress im Rahmen einer europäischen Neuordnung nach Napoleon der Deutsche Bund aus der Taufe gehoben: ein staatliches Intermezzo zwischen zwei Kaiserreichen, zwischen dem 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und dem 1871 gegründeten Deutschen Reich.

Die Urteile über diesen Staatenbund bewegen sich zwischen tiefer Verachtung wegen seiner Unterdrückungspolitik gegen alle freiheitlichen Regungen und Sympathie dafür, dass er über fünfzig Jahre einen Krieg auf deutschem Boden verhindern konnte. Mit dieser friedenserhaltenden Wirkung war es 1866 vorbei, als Preußen nicht nur den Bund sprengte, sondern auch noch im sogenannten Deutschen Krieg einen Teil der bisherigen Bundesgenossen militärisch niederrang, an erster Stelle Österreich, das fortan von deutscher Binnenpolitik ausgeschlossen blieb.

Bereits die Namen des alten „Römischen Reiches“, des Deutschen Bundes und der preußisch dominierten Gründung von 1871 lassen auf wesentliche Unterschiede in der Auffassung, was „deutsch“ sei, schließen. Der Zusatz „deutscher Nation“ im „römischen“ Staatsnamen konnte schon angesichts der Völkervielfalt, über welcher der Kaiser thronte, keine Staatsnation meinen. Dieser Zusatz bezeichnete – gemäß älterer Deutung von „Nation“ – in erster Linie die Herkunft der Herrscher, die seit dem Mittelalter aus deutschen Geschlechtern stammten, zuletzt jahrhundertelang aus dem Haus Habsburg. Das Bismarck’sche Reich dagegen nannte sich „deutsch“ mit dem Anspruch, dass das in ihm vereinte Volk einer biologisch nachweisbaren gemeinsamen Qualität entspräche.

Ein Sammelbegriff für territoriale Vielfalt

Der Deutsche Bund über nahm 1815 scheinbar mit einer gewissen Selbstverständlichkeit die Kennzeichnung „deutsch“, obwohl mit ihr nur bedingt eine höhere politische Einheit angestrebt wurde. „Deutsch“ war gleichsam nur der kleinste gemeinsame Nenner, zumal für einen Staatenbund, in dem auch verschiedenen auswärtige Herrscher, ob Briten, Niederländer oder Dänen, aufgrund von Personalunionen ihren Einfluss geltend machen konnten.

Die Reichsgründung von 1871 erscheint noch heute oft als gelungener Abschluss der deutschen Einheitsbestregungen und scheint deswegen den Staatsnamen „Deutsches Reich“ zu Recht zu tragen. Aber wie stand es dabei mit den bis dahin territorial verwurzelten kulturellen Besonderheiten innerhalb des neuen Reichsvolks? Welche Rolle fiel den ethnischen Minderheiten, den Polen, den Dänen und den annektierten Elsässern und Lothringern zu? Und nicht zuletzt: War damit nicht endgültig besiegelt, dass die Österreicher auch in ihren Kernlanden nicht mehr „Deutsche“ sein sollten?

Tatsächlich erfuhr der Volksname „deutsch“ im Zuge der politischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts eine politisch-semantische Verengung, die zugleich eine inhaltliche Radikalisierung mit schlimmsten Folgen bedeutete. Wie weit zuletzt die Einengung es Begriffs auf ein „Deutschland“, aus dem Österreich ausgeklammert war, von den ursprünglichen Hoffnung der Einheitsbewegung entfernt war, lässt sich an einem einzigen symbolträchtigen Akt erkennen: 1848 wehte die schwarz-rot-goldenen Fahne auch vom Turm des Wiener Stephansdoms.

Auch wenn der Deutsche Bund nicht nur in seinem Namen, sondern auch in manchen seiner Äußerungen das weitere Verständnis von „deutsch“ vertrat – schließlich war Österreich in der Bundesversammlung bis 1866 Präsidialmacht -, so war er gemäß seiner föderalen Grundordnung doch nur ein Sammelbecken sehr unterschiedlicher regionaler Traditionen, in deren Rahmen ein jeweils partikularer Patriotismus gepflegt werden konnte. Man empfand ich in erste Linie als Österreicher, Preuße, Sachse, Mecklenburger usw. Bezeichnenderweise betrachteten sich auch in juristischer Hinsicht die einzelnen Bundesstaaten gegenseitig als Ausland.

Selbst 1848, auf dem Höhepunkt gesamtdeutscher Erhebung existierten nebeneinander zwei frei gewählte Parlamente, die sich „Nationalversammlung“ nannten: in Frankfurt für ganz Deutschland und in Berlin, wo es um die politische Zukunft ausschließlich von Preußen ging; im Verfassungsentwurf der Berliner ist an keiner Stelle etwas von einer größeren, der deutschen Nation zu lesen.

Was bedeutete unter solchen Bedingungen das Wort „deutsch“?

Außerhalb der Nationalbewegung war es mehr oder weniger nur ein Brückenbegriff, der reale wie nur behauptete historische und kulturelle Gemeinsamkeiten assoziieren ließ, mit denen es aber im Einzelnen nicht weiter her war. Die deutsche Geschichte war über weiter Strecken nur eine Addition stark divergierender Territorialgeschichten, seit der Reformation gab es obendrein einen tiefen konfessionellen und damit auch mentalen Riss quer durch Deutschland. Und die vielbeschworene Einheit der Sprache stammte hinsichtlich ihrer Standardisierung gerade mal erst aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; bis ins 20. Jahrhundert waren für die meisten Deutschen die Dialekte die eigentlichen Muttersprachen. Wenn also die Nationalbewegung die deutsche Einheit immer wieder so vehement beschwor, hatte si genau genommen zunächst nur eine Vision im Blick, deren Erfüllung dann freilich verhängnisvolle Züge annehmen sollte.

Der erste Präsident der Bundesversammlung in Frankfurt am Main, der Österreicher Johann Rudolf von Buol-Schauenstein, zog sich in seiner Ansprache zur Eröffnung dieses Gremiums am 5. November 1816 wohl nicht ohne Bedacht auf eine Definition des Deutschen zurück, die prinzipiell auch für andere Völker hätte gelten können: „Im Deutschen als Mensch (…) liegt schon das Gepräge und der Grundcharakter desselben als Volk. Im Deutschen als Mensch liegt Liege zu den Wissenschaften. Er liebt die Künste, er ist erfinderische, gewerbsam, auch Handelsgeist führt ihn selbst in die entferntesten Gegenden der Erde.“ Jedenfalls vermied Buol-Schauenstein jeden Anflug von Arroganz gegenüber anderen europäischen Völkern.

Der quasi anthropologische Schlenker vom „Deutschen als Mensch“ hatte 1816 außerhalb des Deutschen Bundes allerdings längst sehr viel aggressivere Fundierungen erfahren. Der Philosoph Fichte etwa hatte in seinen „Reden an die Nation“ 1807/08 sogar den „Deutschen an und für sich“ erfunden. In seinen Reden geht es immer wieder um eine Sonderstellung der Deutschen.

So habe der Deutsche aufgrund seiner Bodenständigkeit eine „größere Reinheit seiner Abstammung“ – ein geistiger Vorgriff auf die später geforderte Rassereinheit der Deutschen -, und er habe eine von Anbeginn gebrauchte „lebendige Sprache“, während die übrigen Völker „eine nur an der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber todte Sprache“ hätten. Die Deutschen seien mit diesen Eigenschaften ein „ursprüngliches“ oder „Urvolk“.

Hier treten die Wurzeln eines deutschen Selbstverständnisses zutage, das schon sehr früh ganz wesentlich davon lebte, sich gegen „Nichtdeutsches“ abzugrenzen, und dies umso stärker, je unsicherer die historischen Fundamente des Selbstbilds waren. Hier lagen auch die Wurzeln für die Versuche, die Defizite eines angeblich kontinuierlich existierenden „Deutschtums“ zu kompensieren. Eine romantische Verklärung des Mittelalters, die alle Brüche dieser „Idealepoche“ gnädig überging, war ebenso einer dieser Versuche wie der Mythos vom Germanentum, das angeblich in den Deutschen fortlebe.

Verwechslung von „germanisch“ und „deutsch“

Selbst kritische Geister wie beispielsweise Jacob Grimm waren nicht frei von der Verwechslung von „deutsch“ und „germanisch“. Exemplarisch sei seine „Deutsche Mythologie“ von 1835 erwähnt. Zwar versucht er darin, mit bewundernswerter Ausführlichkeit und Akribie die spärlichen Reste der tatsächlich deutschen mythologischen Überlieferung durch Vergleich mit der sehr viel reicheren nordischen Überlieferung in ein umfassenderes, gemeingermanisches Licht zu rücken.

Das Ergebnis jedoch, das die gesicherten deutschen Befunde dabei sehr weit übersteigt, nennt er schon im Titel seines Werks eine „deutsche Mythologie“. Am Ende der Vorrede von 1844 widmet er alle seine Werke überdies der „gegenwart (…), die ich mir nicht denken kann, ohne dass unsere vergangenheit auf siezurückstrahlte“.

Die Erfindung der arisch-nordischen `Rasse´

Die bereits in den Anfängen der Nationalbewegung offenkundige Selbstüberhebung der Deutschen erhielt ausgerechnet von einem Franzosen eine problematische Unterstützung: Joseph Arthur Graf Gobineau versuchte 1853-1855 in einem umfangreichen Werk, die Ungleichheit der `Menschenrassen´ nachzuweisen, wozu er erst einmal eine „arische `Rasse´“ hinzuerfinden musste. Bis dahin war „arisch“ im Wesentlichen nur ein sprachwissenschaftlicher Terminus gewesen, nun wurde er zu einem anthropologischen Hochwertbegriff, den Gobineau auf die allen anderen Bevölkerungsgruppen überlegenen „Arier“ anwendete (zunächst zählten auch noch seine Franzosen dazu).

Die überaus positive Aufnahme der Gobineau’schen Theorie in Deutschland trieb dann schnell ihre eigenen Blüten. `Rassenspeziallisten´ verlegten gleichsam handstreichartig den Ursprung der Arier in den europäischen Norden, womit endlich das Germanische auf den ihm gebührenden Sockel gehoben werden konnte. Wie alle Romanen hatten Franzosen darauf nun aber keinen Platz mehr, in dieser Logik erst recht nicht die Slawen und die Juden, von noch „minderwertigeren“ `Rassen´ ganz zu schweigen. Die Deutschen aber konnten dadurch zum Inbegriff des „Arischen“ und „Nordischen“ und zur „`Herrenrasse´“ werden.

Einen Höhepunkt an monströser Mixtur von historischen, kulturpolitischen, biologischen und psychologischen „Beweisen“ für die einsame Spitzenstellung des Germanen-Deutschen bildete schließlich das Werk von Houston Stewart Chamberlain, dem späteren Schwiegersohn Richard Wagners, „Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts“. Es erschien 1899, erfuhr mehre Auflagen und sogar eine „Volksausgabe“. Von diesem Werk sagte Kaiser Wilhelm II. einmal, die Lektüre habe ihn eigentlich erst zum Deutschen gemacht.

In der Einleitung heißt es zwar: „Die wissenschaftliche Anatomie hat die Existenz von physisch unterscheidenden Merkmalen zwischen den `Rassen´ erwiesen“, aber wo naturwissenschaftlich Kriterien unsicher werden, greift Chamberlain auch auf ganz andere Argrumente zurück. Diese Beliebigkeit ist für die Entwicklung der deutschen „`Rassenkunde´“ geradezu charakteristisch – Hauptsache ist, Vorurteile und Klischees finden ihre „wissenschaftliche“ Bestätigung. Bei Chamberlain geht es entsprechend munter durcheinander, bis er schließlich alle kulturellen Leistungen der Geschichte, sogar die Renaissance für die Germanen reklamiert: „Germanisches Blut, und zwar germanisches Blut allein (…) war hier die treibende Kraft und das gestaltenden Vermögen.“

Die von Fichte für den Deutschen proklamierte „größere Reinheit seiner Abstammung“ war inzwischen in den Diskursen über das, was die Deutschen als Volk ausmache, zu einem immer wichtigeren Kriterium der Ein- und Abgrenzung geworden. Was konnte da hilfreicher sein als die `Rassentheorie´ von den Arier-Germanen-Deutsche, die nach außen wie nach innen vor jeder Beimengung fremder „Art“ und fremden „Blutes“ geschützt werden müssten, wenn sie ihre Spitzenstellung nicht verlieren wollten.

Die Abgrenzung nach außen war schon seit dem Widerstand und Kampf gegen die Franzosen bis 1815 ein grundsätzliches Postulat der Nationalbewegung. Die Abgrenzung nach innen aber trieb insbesondere im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Feindschaft gegen Juden, den Antisemitismus, in tiefste Abgründe. Hierfür gab es freilich schon eine lange Traditionslinie, die auch von prominenten Zeitgenossen besetzt war: Genannt sei nur Achim von Arnim, der 1811 zur Gründung der Berliner „Christlich-deutschen Tischgesellschaft“, eines der wichtigsten Romantikerzirkel, unter dem Titel „Über die Kennzeichen des Juden-thums“ ein Kompendium übelster Gehässigkeiten bot, um zu begründen, warum kein Jude Mitgleid werden dürfe; Juden gebühre bestenfalls „ein Fußtritt“.

Deutsch-Sein ohne Ausgrenzung von „Nichtdeutschen“

Juden auszugrenzen, möglichst außer Landes zu schaffen, gehörte zu den Forderungen einer allgemeineren Bewegung, die als „deutsches Volk“ nur eine genetisch, das heißt ethnisch-homogene Gemeinschaft gelten lassen wollte. Diese Bewegung wurde nicht zuletzt von prominenten Wissenschaftlern gestützt und gefördert. Das Gütesiegel der echten Deutschen, die von sich  zumindest behaupteten, „`rassenreich´“ zu sein, hieß nun „völkisch“. In Zweifelsfällen half die `Rassenhygiene´, auch „Eugenik“ genannt, nach, also jene Wissenschaft, die es schon vor 1933 zur Hochschuldisziplin brachte und 1945 fast übergangslos zur „Humangenetik“ mutierte.

So sehr solche Verirrungen in früh verbreiteten deutschen Überheblichkeiten ihren Nährboden hatten, so wenig erscheint indes die tatsächliche Entwicklung zu einem rassischen Reinheitswahn zu einem aggressiven Nationalismus zwangsläufig.

Blicken wir noch einmal zum Deutschen Bund und prominenten Äußerungen zur Bedeutung von „deutsch“ und „Deutscher“ wie bei Buol-Schauenstein zurück, so kann man darin durchaus einen Ausdruck sympathischer Bescheidenheit sehen. Und auch die Frankfurter Pauskirche kam nach intensiver Debatte in ihrem Verfassungsentwurf zu Formulierungen, die noch heute für eine gelassenere Debatte um deutsche Identität bedenkenswert wären. So heißt es dort in Paragraf 131 und 132, dass das deutsche Volk aus den Angehörigen der Staaten bestehe, die das Deutsche Reich bilden, und dass jeder Deutsche das gleiche deutsche Reichsbürgerrecht habe – und das alles ohne Wenn und Aber.

Paragraf 188 indes könnte heute alle Verfechter einer deutschen Leitkultur in schiere Verzweiflung stürzen: „Den nicht deutsch redenden Volksstämmen Deutschlands ist ihre volksthümliche Entwicklung gewährleistet, namentlich die Gelichberechtigung ihrer Sprachen, soweit deren Gebiete reichen, in dem Kirchenwesen, dem Unterrichte, der inneren Verwaltung und der Rechtspflege.“ Gelichwohl werden ihr Deutsch-Sein und ihre Reichsbürgerrechte nicht angezweifelt.

Den „Deutschen an und für sich“ hat es ohnehin nie gegeben, der „Deutsche als Mensch“ dagegen ist eine empfehlenswerte Perspektive geblieben.

*Horst Dieter Schlosser: Der Deutsche an und für sich, Feuilleton, Frankfurter Rundschau, 6./7. Juni 2014,  32-33.

Horst Dieter Schlosser, Jahrgang 1937, war von 1972 bis 2002 Professor für deutsche Philologie an der Frankfurter Goethe-Universität. 1991 initiierte er die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“. Zahlreiche Bücher hat Schlosser veröffentlicht. 2013 erschien im Böhlau Verlag „Sprache unterm Hakenkreuz. Eine andere Geschichte des Nationalsozialismus“.

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