„ … und das heiße Herz“

Thomas Oberender* beschreibt und kommentiert: Was Wilhelm Hauffs Kunstmärchen, „Das kalte Herz“ von 1827, mit der deutschen Willkommenskultur zu tun hat. Und warum in diesen Tagen der Masseneinwanderung politische Romantik ausnahmsweise wohltuend klingt.

Die „Welcome“-Schilder am Münchner Hauptbahnhof und andernorts, die als Fotos um die Welt gingen, haben mich und viele Menschen im Ausland dieses große, noch immer zusammenwachsende Deutschland anders sehen lassen. Es ist durch diese Gesten ein Stück mehr Heimat geworden. Erstaunt höre ich, wie Angela Merkel, die das Land eher als kluge und uneitle Maklerin des Pragmatischen regiert, dazu aufruft, unsere Herzen zu öffnen, sich der Not der flüchtenden Menschen nicht zu verschließen und nicht mitzutun am Wettbewerb der garstigsten Unfreundlichkeit in der Hoffnung, die Flüchtlinge so wieder loszuwerden, sondern ihnen mit Freundlichkeit zu begegnen und das in dieser Situation Notwendige zu tun, auch wenn das unserem Land viel abverlangen wird.

Angela Merkel spricht über die Not der Flüchtlinge. Ihre Politik nimmt, man traut es sich kaum zu sagen, romantische Züge an. Ihre Empathie mit den Notleidenden und ihre Parteinahme für die um Schutz Flehenden lässt die Kanzlerin immer wieder betonen, dass wir unsere Herzen öffnen müssen. diese Politik gegen das kalte Herz erregt weltweit Aufmerksamkeit und das Ausland reibt sich staunend die Augen. Was passiert da gerade in Deutschland? Offensichtlich versucht Angela Merkel nun ein zweites Mal, Europa zu retten.

Im ersten Fall, bei er Finanzhilfe für das insolvente Griechenland, schlug dies nicht zum Lobpreis der Deutschen aus, wohl aber im zweiten Fall, bei der Aufnahme von bald einer Million Flüchtlingen. Eben noch galten Deutschlands Regeln einer austeritären Finanzpolitik als unantastbar, da setzt sich unser Land plötzlich über alle Regeln hinweg und lässt sich von Schutzsuchenden fluten. Weil uns, als Nachfahren des größten Völkermordvolkes in Europa, auf immer jede Ablehnung der Fremden verboten ist? Vielleicht spielt auch das eine Rolle.

Aber der merkwürdige Doppelcharakter der deutschen Europapolitik offenbart darüber hinaus eine andere Seite unserer mentalen Sinne, mit dem Zeitalter der Romantik verbunden ist, das ja auch ein Zeitalter der ersten, vorbotenhaften Begegnung mit dem modernen und sich globalisierenden Industriekapitalismus war.

Wilhelm Hauffs Kunstmärchen „Das kalte Herz“ von 1827 erzählt die Geschichte eines jungen Glückssuchers, der, nachdem er drei Wünsche verspielt hat, an einen gefährlichen Geist gerät. Dieser lässt das Geld des kleinen Mannes wandern und vermehrt es wundersam, weshalb der kleine Mann ihm sein Herz verkaufen muss. Fortan lebt er mit einem kalten Stein in der Brust. Er wird erfolgreich, kennt keine Angst, und zugleich wird er hartherzig und böse. Als er seine Frau erschlägt, setzt sein inneres Erwachen ein, und durch eine List gewinnt er sein Herz zurück.

„Das kalte Herz“ war, wie der Philosoph Manfred Frank treffend schrieb, Teil einer poetischen Herzensgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die sensibel und bildreich auf handfeste ökonomische Veränderungen reagierte, etwa auf die Freigabe des Handels und Auflösung des Zunftbanns in Baden und das glückspilzhafte Prosperieren geschickter Kapitalspekulanten. Sie war die Reaktion auf eine schwere Wirtschaftskrise in Süd- und Mitteldeutschland um 1825/26, als durch die Massenprodukte der überlegenen britischen Industrie ganz Gewerbezweige hierzulande aus dem Markt gedrängt wurden. In den einheimischen Zeitungen wurde von den erbärmlichen Zuständen in den englischen Fabriken berichtet, aber eben auch von Beispielen gewissenlosen Gewinnstrebens der für Geld verkauften Seelen und marmornen Herzen.

 Anno 1827: Das Märchen stammt ebenfalls aus Zeiten der Krise

Hauffs erfunden Heimatsage vom „Kalten Herz“ wollte in ihrer Form absichtsvoll modern sein und suchte im Vergleich zu den Grimm’schen Märchen ganz bewusst nach aufregenden, ironischen und fantastischen Brechungen des Mythos, wobei sie der Sehnsucht der Romantiker nach der Liebe und dem Guten im Menschen funkelnden Ausdruck gab. Politisch aber argumentierte sie rückwärtsgewandt durch den Verweis auf eine fiktive, alte Zeit, deren Ideale wie bürgerlicher Gewerbefleiß, christliche Moral und ständische Ordnung sie wiederbeleben wollte. Die politische Romantik unserer gegenwärtigen Europapolitik ist das Gegenteil davon. Sieofferiert kein Retroversprechen, sie suspendiert zwar für einen Moment die Priorität der Ökonomie, aber nicht zugunsten unserer Nation, sondern zur Rettung eines Europas mit humanistischem Antlitz. Für Geld ist es nicht zu kaufen.

Für den amerikanischen Romancier Walker Percy, zu dem ein seltsames, unterirdisches Band vom badischen Katholizismus in die Südstaatenrealität der amerikanischen Nachkriegsmoderne führt, leben wir in einem „Zeitalter des Theoretikers un des Konsumenten“. Percy hat als Künstler und Essayist literarische und intellektuelle Figuren geschaffen, die vielleicht dazu taugen, einen wissenden Lebensmut zu entwickeln und Abstand zu finden zu einem Jahrhundert, welches „das wissenschaftlich fortgeschrittenste, wildeste, demokratischste, inhumanste, sentimentalste, mörderischste Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit war“. Jetzt, so scheint es, kommen die Flüchtlinge aus den direkten und indirekten Kolonien eben dieses Zeitalters zu uns, und wir tragen Verantwortung für die Entwicklungen innerhalb dieser Länder.

Aber auch wir selbst, in Europa, sind längst keine stabile, geordnete Gemeinschaft mehr, die nur durch Migranten durcheinandergebracht wird. Konsum und Säkularismus haben längst einen viel fundamentaleren Wertewandel in Deutschland bewirkt als Migration. Wenn die Pegida-Bewegung suggeriert, dass unsere stabile, wohlgeordnete Gesellschaft durch Migration „durcheinander“ gerät, so ist das ein gefährliches Sündenbockmodell.

Was jetzt als Masseneinwanderung auf uns zukommt, forciert diesen von Konsum und Theorien geprägten Wertewandel weiter und offenbart eine tiefe, konstitutive Gespaltenheit: Multikulturalismus ist erwünscht, aber Moscheen möchte man nicht. Wir pendeln zwischen einem instrumentellen Kalkül („Migranten als Arbeitskräfte sind gut“) und einem humanitären Kalkül, zu dem uns das Grundgesetz, die Verfassung der EU und, ja, wo nicht das Christentum, so doch unser pochendes, Hauffsches Herz verpflichtet. Wenn die Grenzen fallen, welche bleiben?

Migration entfaltet, so der Soziologe Albert Scherr, eine Eigendynamik, die sich staatlicher Steuerung entzieht. „Familienzusammenführung“ hatte in Zeiten der innerdeutschen Migration einen jubelnden Unterton. Heute klingt das Wort für viele bedrohlich – die sogenannte Kettenwanderung, bei der Familienmitglieder weiter Angehörige nachholen, beruht oft auf illegalen und informellen Kontakt- und Informationsstrukturen. Familiennachzug kann man nicht abschalten.

Migranten lassen sich auch nicht beliebig integrieren und anpassen. Und vielleicht müssen wir akzeptieren, dass viele Einwanderer es vorziehen, unter sich zu bleiben. Es geht keineswegs gleich alles auf in sogenannten Bindestrich-Identitäten. Nach und neben der Einwanderung der Eliten, um die England und Deutschland in Osteuropa ostentativ geworben haben, folgt die Einwanderung der Massen. 20 Missionen Einwanderer und Flüchtlingen hat Deutschland zwischen 1944 und 2007 aufgenommen, wir sind längst ein Einwanderungsland. Diese Einwanderer verändern das Land, und sie verändern sich selber. Das Problem mit ihrem „kulturellen Rucksack“ ist ein Mythos, denn oft haben die Migranten Probleme mit den kulturellen Normen ihrer Herkunftsländer. Und wir werden es erleben, dass die Deutschen, die doch, nach Helmut Plessner, immer eher Bürger einer Kultur waren als eines Staate, über kurz oder lang Bürger vieler Kulturen werden.

Angela Merkels Betonung, dass sie stolz darauf ist, dass viele Deutsche die Flüchtlinge am Bahnhof „von Herzen begrüßt haben“, stellte die Not der Schutzsuchenden über die Sparpläne der Regierung, das Herz über den Konsum, die Praxis der Hilfe über jede Theorie. Hier klingt eine politische Romantik an, die ausnahmsweise einmal wohltuend in unsere Zeit hinüberwirkt, sich mit der eher instrumentellen Rationalität der Systeme und Medien mischt, und für einen Augenblick eine andere Sprache in Umlauf bringt. Wir brauchen sie, um einen klugen Lebensmut und die Positivität unseres Handelns auch dann zu bewahren, wenn die Probleme wachsen. Dies stellt eine genauso große nationale Herausforderung dar wie die aktuelle Bewältigung der Masseneinwanderung Die Flüchtlinge haben sich auf einen langen und gefährlichen Weg zu uns gemacht, und ein genauso langer Weg liegt nun vor uns.

*Thomas Oberender (49) ist Intendant der Berliner Festspiele. In loser Folge druckt „Der Tagesspiegel“ Beiträge von Leitern deutscher Kulturinstitutionen zur Flüchtlingskrise. Bisher erschienen: Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts(30.9.), Friederike Fless, Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts (11.10.).

aus: Der Tagesspiegel, KULTUR, 20.10.2015, Seite 19.

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